Der dunkle Highlander
vor der Tür stand und vorhatte, ihr Leben noch mehr ins Chaos zu stürzen.
Wie konnte es jemand wagen, ihr noch mehr Kummer zuzumuten? Sie war sich vage bewusst, dass sie nicht vernünftig reagierte, aber das war ihr gleichgültig. Sie stand auf, nahm das Schwert vom Haken über dem Kamin und schlich zur Tür.
Sie zog kurz in Erwägung, mit dem Schwert gegen die Tür zu schlagen und den Eindringling so zu erschrecken, dass er Reißaus nahm. Aber sie kam zu dem Schluss, dass sich der Dieb hier oben, wo niemand etwas hören konnte, wahrscheinlich nicht so schnell ins Bockshorn jagen ließ. Außerdem würde sie den Vorteil der Überraschung verlieren.
Also stellte sie sich hinter die Tür und wartete. Es dauerte nicht lang, bis sie ein Klicken hörte und das Schloss aufschnappte. Chloe atmete flach und balancierte auf den Fußballen, um mit dem hoch erhobenen Schwert, das sie mit beiden Händen hielt, losschlagen zu können.
Die Tür ging auf, und eine dunkle Gestalt schlich herein.
Schnell und vielleicht heftiger, als sie es beabsichtigt hatte, schwang sie die Klinge zum Hals des Einbrechers.
Sie hörte ihn nach Luft schnappen und vermutete, dass ihn die scharfe Klinge tief geschnitten hatte.
Sehr gut, dachte sie befriedigt.
»O Chloe-Mädchen, bitte leg das Schwert weg«, hörte sie Dageus sagen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus.
Die Seelengefährtinnen der Keltar kommen stets auf Umwegen zu ihren Männern. Einige unternehmen weite, anstrengende Reisen, andere haben nur einen kurzen Weg. Aber ihre Herzen müssen ein Labyrinth überwinden. Die meisten w ehren sich gegen jeden Schritt, der sie ihrem Schicksal näher bringt, und doch wird für jeden Keltar eine Frau die Strapazen auf sich nehmen. Dann liegt es an den Keltar, diese Frau an sich zu binden.
Silvan legte nachdenklich das kleine Bändchen, das er in der geheimen Kammer gefunden hatte, auf seinen Schoß. Es war das einzige Buch, das er der lange vergessenen Bibliothek entnommen hatte, bevor er sie versiegelte. Jetzt las er es in der Abgeschiedenheit seiner Turmbibliothek zu Ende, hundertunddrei Stufen über dem Erdgeschoss. Die Turmbibliothek war sein Allerheiligstes und einst auch sein Schlafzimmer. Es war nicht vermerkt, wer dieses Buch geschrieben hatte. Wahrscheinlich hatte der Verfasser das so gewollt. Es umfasste nur wenige Dutzend kleinformatige Pergamentseiten. Trotzdem war diese kurze Zusammenfassung der schicksalhaften Begegnungen zwischen den Keltar und den ihnen vorherbestimmten Frauen faszinierend.
Und warum hast du deine Seelengefährtin noch nicht endgültig an dich gebunden, du Schwachkop f
Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Er dachte lange nach und sah sich in dem Turmzimmer um.
Dicke Kerzen waren auf den kleinen Tischen verteilt und verbreiteten ein sanftes Licht. Sie flackerten leicht in der lauen Abendbrise. Silvan lächelte. Er fühlte sich wohl in seinem kleinen Reich. Schon als
Junge war er von dem Turm begeistert: von der Wendeltreppe, den Steinmauern mit den unzähligen Rissen und Spalten, den dicken Wandbehängen und der atemberaubenden Aussicht aus dem Fenster in dem großen runden Raum. Inzwischen war er ein alter Mann und fand sein Refugium nicht weniger zauberhaft.
Als Zwanzigjähriger hatte er in demselben Sessel gesessen wie heute als über Sechzigjähriger. Er kannte jede Erhebung und jede Senke der Landschaft, die sich unter seinem Fenster ausbreitete. Doch sosehr er es auch geliebt hatte, hier oben in der Einsamkeit Zuflucht zu suchen, so sehr war ihm der Turm mit der Zeit auch zu einer Art Gefängnis geworden. Vor ein paar Jahren hatte er dieses Gefängnis dann bereitwillig verlassen. Er hatte Neil geheiratet und mit ihr ein Zimmer im Hauptgebäude des Schlosses bezogen.
Dennoch gab es auch Abende wie diesen, an denen er sich nach der luftigen Höhe und Ruhe zum Nachdenken sehnte. Dageus und Chloe waren vor knapp einem Monat weggegangen, und Silvan fragte sich, wie viel Zeit noch vergehen musste, bis er sich endlich damit abfand, nie zu erfahren, was aus seinem Sohn geworden war. Er war überzeugt, dass Dageus alles tun würde, was getan werden musste; aber er selbst würde sich für den Rest seiner Tage quälen, weil er nicht wusste, wie viel Dageus erreicht hatte.
Und Nellie ebenfalls. Seit Chloe und Dageus nicht mehr da waren, war die Stimmung im Schloss trübsinnig.
Nellie. Wie sehr sie sein Leben bereicherte! Ohne Neil würde Silvan nach dem Verlust seiner beiden Söhne ganz allein auf
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