Der dunkle Highlander
gegangen - packen, den Reisepass aus ihrer Wohnung holen, bei der Bank ein Schließfach für ihre Kunstgegenstände (ihre Kunstgegenstände!) mieten, ein hastiges spätes Mittagessen und schließlich die Fahrt zum Flughafen.
Kein Wunder, dass sie sofort eingeschlafen war. In der Nacht zuvor hatte sie kaum ein Auge zugetan, so aufgeregt war sie wegen ihrer Entscheidung gewesen, Dageus nach Schottland zu begleiten. Dann der hektische Tag und der Überfall - allein der Schock hatte ihr fast sämtliche Energien geraubt. Sie konnte das, was geschehen war, immer noch nicht glauben; es erschien ihr irreal, als hätte sie den Vorfall im Fernsehen gesehen oder als wäre das einem anderen passiert. Seit fast einem Jahr lebte sie in einem der weniger schönen Viertel von New York, und nie war ihr etwas zugestoßen. Weder war sie in der U-Bahn ausgeraubt noch belästigt worden, ja, um genau zu sein, hatte sie niemals mit offener Feindseligkeit Bekanntschaft gemacht. Vielleicht war sie jetzt einfach fällig gewesen. Allerdings konnte die Polizei auch auf ein anderes Motiv stoßen ...
Doch dieser Gedanke blieb vage, flüchtig und verschwand sofort wieder aus ihrem Bewusstsein.
Es ließ sie nicht los, dass sich der Angreifer in den Tod gestürzt hatte. Das bewies doch, dass es ein Irrer war. Aber ihr war auch klar, dass er vorgehabt hatte, sie ernsthaft zu verletzen, wenn nicht gar zu töten. Der Pragmatismus nahm ihren Emotionen die Heftigkeit. Sie war schlicht dankbar, den Überfall überlebt zu haben. Dass der Mann so verrückt gewesen war, über sie herzufallen und sich dann von der Terrasse zu stürzen, tat ihr Leid; aber sie war froh, dass sie am Leben war. Erschreckend, wie sich das Leben, wenn es bedroht wurde, auf das Grundlegende reduzierte.
Wäre Dageus nicht zurückgekommen - der Gedankejagte ihr einen Schauer über den Rücken -, hätte sie um ihr Leben kämpfen müssen. Sie entdeckte völlig neue Seiten an sich. Eigentlich hatte sie befürchtet, dass sie im Falle eines Angriffs einfach zusammenbrechen oder vor Schreck gelähmt sein würde. Folglich hatte sie sich immer gefragt, ob sie ein hoffnungsloser Feigling war.
Gott sei Dank war sie das nicht. Und Gott sei gepriesen, weil Dageus den Schlüssel vergessen hatte.
Sie war ja so dämlich. Giles Jones - also wirklich! Das hätte sie hellhörig machen müssen. Stattdessen hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, weil sich der Eindringling anfangs normal verhalten hatte. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass auch Serienmörder immer aussahen wie der Typ von nebenan.
Dann war Dageus hereingekommen, und plötzlich bekam der Fremde einen sehr eigenartigen Gesichtsausdruck. Sie konnte das gar nicht beschreiben ...
Chloe verdrängte die düsteren Erinnerungen. Es war schrecklich gewesen; noch nie hatte sie eine solche Angst gehabt. Aber jetzt war es vorbei. Sie wollte nach vorn schauen, nicht zurück. Das Entsetzen würde sie erneut befallen, wenn sie zu viel grübelte. Kurz bevor sie New York verlassen hatte, hatte sich etwas Furchtbares ereignet; aber das sollte die Zeit, die sie dort verbracht hatte, nicht trüben oder ihre Zukunft beeinflussen. Der Kerl war schließlich tot. Er sollte nicht posthum noch die Genugtuung haben, dass er ihr einen dauerhaften Schrecken eingejagt hatte. In ihren vierundzwanzig Lebensjahren war sie nur einmal Opfer eines versuchten Verbrechens geworden. Damit konnte sie leben. Damit würde sie leben und sich nicht für den Rest ihrer Tage fürchten. Ob sie nun vorsichtiger sein würde? Ganz sicher. Und würde sie auch Angst haben? Nein. Auf gar keinen Fall.
Sie war auf dem Weg nach Schottland, und zwar mit dem Mann, der ihr das Gefühl gab, lebendiger zu sein als je zuvor. Und sie war fest entschlossen, jede Minute dieser Reise zu genießen. Was ihr Großvater wohl von Dageus halten würde?
Chloe Zanders. Chloe ... MacKeltar. Zanders, schalt sie sich sofort, hör auf mit diesem Unsinn! Sie würde sich auf keine Romanze einlassen. Das hatte sie sich vorhin geschworen, als sie im Flughafengebäude darauf gewartet hatten, dass ihre Maschine zum Einsteigen bereit wäre. Dageus war sehr aufmerksam, er begleitete sie zur Toilette, lud sie zu einem kleinen Snack ein und wich ihr nicht von der Seite, blieb aber bei alledem kühl und distanziert. Diese verdammte Zurückhaltung und diese Selbstbeherrschung! Kein Wunder, dass die Frauen verrückt nach ihm waren und jede diejenige sein wollte, die zu seinem inneren Kern vordrang. Aber
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