Der dunkle Highlander
an.
Chloe riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte diesen Herrn schon einmal gesehen. Aber wo?
O nein. So schnell ihr der Gedanke in den Sinn kam, so schnell verwarf sie ihn kopfschüttelnd. Heute Nachmittag in der Ahnengalerie von Christopher und Maggie MacKeltar! Sie hatte etliche Porträts von ihm gesehen, und im selben Bereich waren etwa ein halbes Dutzend Bilder entfernt worden, die dunkle Flecken an der Wand hinterlassen hatten. Maggie hatte ihr erzählt, dass die Porträts aus dem entsprechenden Jahrhundert - dem sechzehnten - beim Restaurieren waren.
Das Gesicht dieses Mannes war ihr im Gedächtnis geblieben, weil er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Einstein hatte. Mit den schlohweißen Haaren, den dichten Augenbrauen, den Runzeln und den tiefen Furchen um den Mund sah er genau aus wie der große Physiker. Allerdings hatte er auch etwas von einem Zauberer an sich. Selbst Gwen hatte ihr mit einem sonnigen Lächeln zugestimmt, als Chloe in der Galerie eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte.
»W-wer ist d-das?«, stammelte Chloe.
Als Dageus ihr keine Antwort gab, fuhr sich der alte Mann mit beiden Händen durch das wirre weiße Haar und funkelte Dageus an. »Ich bin sein Vater, meine Liebe. Silvan. Aber ich denke wohl, dass er dir genauso wenig von mir erzählt hat wie Drustan seiner Gwen, bevor er sie herbrachte. Ist das so, mein Junge? Oder hast du ihr wenigstens das verraten?« Er warf Dageus einen vorwurfsvollen Blick zu.
Dageus stand starr wie die aufrechten Steine neben Chloe. Sie sah zu ihm auf, aber er erwiderte ihren Blick nicht.
»Du hast gesagt, dein Vater sei tot«, erinnerte sie ihn beklommen.
»Das bin ich auch«, bestätigte Silvan, »im einundzwanzigsten Jahrhundert bin ich tot, aber nicht im sechzehnten, meine Liebe.«
»Wie?« Chloe zwinkerte verwirrt.
»Ausgesprochen seltsam, wenn man darüber nachdenkt«, sagte Silvan ernst. »Es ist, als wäre ich in meiner eigenen Zeitspanne unsterblich. Das jagt einem Schauer über den Rücken.«
»Das sechzehnte Jahrhundert?« Sie zupfte Dageus am Ärmel und flehte ihn auf diese Weise an, etwas zu sagen und die Dinge klarzustellen. Er tat es nicht.
»Ja, meine Liebe«, erwiderte Silvan.
»Sie meinen ... da ich Sie aber sehe, heißt das, dass Sie am Leben sind oder dass ich träume oder den Verstand verloren habe ... aber ich träume nicht und habe nicht den Verstand verloren, also muss ich, äh ... dort sein, wo Sie noch nicht tot sind, oder?«, fragte sie vorsichtig. Sie wollte die Dinge nicht zu deutlich beim Namen nennen, sonst hätte sie sich ernsthaft damit befassen müssen.
»Eine brillante Schlussfolgerung«, bemerkte Silvan anerkennend. »Wenn auch ein wenig umständlich formuliert. Du siehst mir aus wie ein kluges Mädchen.«
»O nein«, wehrte Chloe ab und schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nie passiert. Ich bin nicht im sechzehnten Jahrhundert. Das ist unmöglich.« Sie sah wieder zu Dageus auf, aber er vermied es nach wie vor, sich ihr zuzuwenden.
Zusammenhanglose Gesprächsfetzen wirbelten Chloe durch den Kopf: Gerede von Toren, Brücken, uralten Flüchen und mythischen Völkern.
Chloe starrte das fein geschnittene Profil von Dageus an und ordnete im Geist die Tatsachen, die mit einem Mal eine ungeheuerliche Bedeutung bekommen hatten: Er sprach mehr Sprachen als irgendjemand sonst aus ihrem Bekanntenkreis - auch Sprachen, die längst nicht mehr gebräuchlich waren; er besaß mittelalterliche Kunstgegenstände in bestem Erhaltungszustand; er forschte in Büchern, die sich mit der Geschichte des alten Irland und des alten Schottland beschäftigten. Er hatte hier im Kreis der uralten Steine gestanden und sie gefragt, ob sie mit ihm kommen würde, auch wenn er ihr nicht sagen, sondern nur zeigen konnte, wohin er gehen wollte. Ganz so, als ob sie ihm kein Wort glauben würde, wenn sie es nicht mit eigenen Augen sah. Und in diesem Steinkreis hatte ein fürchterlicher Sturm mit Regen und Hagel getobt, bis sie glaubte, entzweigerissen zu werden. Es hatte einen plötzlichen Klimawechsel gegeben, und jetzt standen große, jahrhundertealte Bäume um den Steinkreis, die vorher nicht da gewesen waren, und sie sprach mit einem älteren Mann, der behauptete, der Vater von Dageus zu sein - im sechzehnten Jahrhundert.
Und da sie schon einmal beim Thema war: Falls irgendetwas an ihrer gegenwärtigen Umgebung real war, wieso hatte der Dageus MacKeltar aus Manhattan dann einen Vater im sechzehnten Jahrhundert? Sie klammerte sich an
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