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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Kleidungsstück, das ich nur aus Geschichtsbüchern kannte.
    »… das macht neunzig Sandkörnchen in einem Gramm …«, flüsterte ich weiter.
    Ihr Gesicht war herzförmig, ihre Lippen hatten die Farbe von reifen Kirschen, verzweifelt formte sie Worte, die ich nicht hörte.
    »… bei einer Handvoll Sand, die fünfundsechzig Gramm Sand entspricht, ergibt das …«
    Das Mädchen hauchte das Glas an. Wie eine Besessene begann sie Zahlen zu schreiben.
    »… insgesamt … fünftausendachthundertfünfzig Sandkörner. Bei der Korngröße eins Komma fünfundzwanzig Millimeter sind es dreihundertsiebzigtausend in einem Gramm, das macht …«
    Und während ich noch versuchte, mich an den Zahlen in die wirkliche Welt zurückzuhangeln, las ich die Botschaft ihres Atemhauchs, meine Zahlen, die sie gleichzeitig mit meinen Worten niederschrieb! Als ich verstummte, zögerte sie kurz – dann brachte sie meine Rechnung zu Ende:
    = 24 050 000
    Die Summe der Körner stimmte. Und sie hatte nicht länger für die Rechnung gebraucht als ich. Sie lächelte mir verzweifelt zu und legte die Hand an die Scheibe, genau dorthin, wo noch ein blauer Abdruck von meinem Faustschlag glomm. Ich würgte an einem trockenen Schlucken. »Du und ich – wir haben beide dieselbe Gabe?«
    Sie schüttelte den Kopf, hauchte an eine andere Stelle und schrieb:
    1 + 1 = 1
    »Was meinst du damit? Schreib mir Worte auf!«
    Sie hörte mich, aber sie ging nicht darauf ein, sondern versuchte sich mit Gesten begreiflich zu machen. Ihre Bewegungen bekamen etwas Hektisches, Verzweifeltes. Sterne blinkten über ihr – aber es waren nur zwei, die unheilvoll glommen wie zwei Augen. Das Mädchen krümmte sich und kroch von mir fort, zurück in den Rauch, der sie verbarg, als müsste sie sich in Sicherheit bringen.
    »Warte!«, schrie ich.
    »Warte!«, wimmerte ich. Aber jetzt, als ich mich zum ersten Mal in meinem Leben an einen Traum klammerte, entglitt er mir wie Sand, der durch ein Sieb rieselt. Mein Arm war eingeschlafen, der zerklüftete Marmorboden drückte in meine Schulter und meine Wange. Ich war wach, mein Herz raste – und das Mädchen war fort, obwohl sie immer noch irgendwo in mir nachhallte. Nur die zwei Sterne glommen immer noch, obwohl es im Altarraum keinen Sternenhimmel gab. Über mich beugte sich etwas Dunkles. Dort, wo das Gesicht sein musste, erahnte ich die zwei kalten Punkte, die ich für Sterne gehalten hatte.
    Mit einem Keuchen schoss ich hoch, die Dolchklinge schnellte unsichtbar in der Dunkelheit nach oben – und wurde von einem harten Griff um mein Handgelenk gebremst.
    »Bist du verrückt? Ich bin es!« Eine kleine Taschenlampe klickte Amads besorgte Züge herbei. Jetzt erst schüttelte ich die letzten Schleier des Schlafs ab. Ich musste das Glimmen seiner Augen geträumt haben.
    »Was suchst du hier? Und warum starrst du mich im Schlaf an?«
    »He, was soll das Gebrüll?« Am anderen Ende des Saals setzte sich Juniper gähnend auf. Eine weitere Taschenlampe ging an. Unwilliges Gemurmel erklang, verschlafene Gesichter wandten sich uns zu.
    »Meine Schwester hatte nur einen Albtraum«, antwortete Amad in die Runde. Und leise sagte er zu mir: »Du hast geschrien. Ich wollte dich nur wecken.«
    Ich riss mich los und kroch zurück. Immer noch hatte ich Gänsehaut, und diesmal wusste ich ganz sicher, dass ich mir nichts einbildete. Das schwarzhaarige Mädchen war immer noch bei mir. Und … es hat Angst vor dir, Amad.
    Sein Griff wurde lockerer, aber er ließ mein Handgelenk nicht los. Ein Schauer durchfuhr die Haut, als er mit dem Daumen zart darüberstrich. Und dann fühlte ich mich, als würde ich zum ersten Mal durch Mauern blicken.
    Bei Amads Berührung verlosch die Gegenwart des Mädchens wie eine Flamme in einem kalten Windstoß. Und gestern war dasselbe passiert: Der blonde Junge mit den Bernsteinaugen war in meiner Nähe gewesen, bis Amad mich berührt hatte. Der Junge ist vor dir geflüchtet, Amad. Du vertreibst meine Stimmen. Und deine Nähe nimmt mir auch die Verbindung zu Tian . Die nächste Erkenntnis schmeckte so ernüchternd wie ein Schluck sauer gewordener Wein. »Berührungen sind wie weiche Wellen, die die Vernunft ertränken.« Junipers Lektion klang nun wie Hohn. »Nichts beruhigt Menschen mehr, als wenn du ihr Herz dazu bringst, ihr Misstrauen zu übertönen.«
    Es kränkte mich unendlich, dass Amad nur deswegen meine Nähe gesucht hatte. Ich hätte auf meine Stimmen hören sollen. Sie hatten mich oft genug vor ihm

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