Der dunkle Spiegel
es tun können, nicht wahr? Sie hat das Fläschchen mit der Arznei an sich genommen und den Inhalt verdünnt. Wir sind gestern von diesem Pfad abgekommen.«
»Ja, und es scheint mir wichtig, ihn weiterzuverfolgen.«
Pater Ivo lehnte sich zurück und ließ die Sonne auf seine geschlossenen Augen scheinen. Almut beobachtete ihn schweigend und kam zu dem völlig unpassenden Schluss, dass er einst ein schöner Mann gewesen sein musste. Jetzt hatten sich Linien in sein Gesicht gegraben, die von Strenge sprachen, vielleicht sogar von vergangener Bitterkeit. Aber sie wurden gemildert durch eine Anzahl kleiner Fältchen um die Augen, die sich immer bildeten, wenn er sich über etwas amüsierte. Sie wusste inzwischen, dass er seine Strenge zuallererst gegen sich selbst wandte, und sie ahnte, dass er seine Bitterkeit inzwischen beinahe überwunden hatte. Zu gerne hätte sie gewusst, was für ein Leben er geführt hatte, bevor er das schwarze Gewand der Benediktiner angelegt hatte. Doch diese Frage auszusprechen verbot sich selbst ihrer neugierigen Zunge. Dafür formulierte sie schließlich eine andere.
»Gibt es irgendetwas, woran Ihr Euch im Zusammenhang mit Jean erinnert, das sein Verhältnis zu Frau Dietke beschreibt?«
Pater Ivo öffnete die Augen und nickte: »Ich versuchte eben, mich daran zu erinnern. Doch da gibt es nicht viel. Er sprach wenig von ihr.«
»Sie ist eine schöne Frau, Pater. Viel jünger als ihr Gatte. Vielleicht vier oder fünf Jahre älter als Jean.«
»Ihr wollt damit andeuten, die beiden könnten ein Verhältnis gehabt haben?«
»Wäre das nicht denkbar? Verschmähte Liebe hat schon mehr als eine Frau zum Giftfläschchen greifen lassen. Außerdem wäre das für Tilmann, wenn er es herausgefunden hätte, ein Druckmittel gegen Jean gewesen. Etwa die Drohung, de Lipa von dem Verhältnis zu berichten.«
»Ja, so würde wohl eins zum anderen passen.«
Almut fiel noch eine weitere Kleinigkeit ein, und sie sagte: »Frau Dietke wirkte erschreckend niedergeschlagen, als sie am Sonntag mit Bruder Johannes zu uns kam. Obwohl dessen Gegenwart ja jeden niederschlagen kann.«
»Das dürfen wir als Anklage nicht einbeziehen, da habt Ihr Recht.«
»Aber es gibt noch etwas, das gegen Frau Dietke spricht. Sie hat keine Kinder, und de Lipa behandelte Jean wie seinen Sohn und – vielleicht – Erben?«
»Eifersucht? Auch ein Beweggrund, aber sie müsste schon sehr heftig sein. Frau Dietke ist jung und könnte durchaus noch selbst Kinder bekommen.«
Almut pflückte eine Margerite ab, die neben der Bank blühte, und begann, eines der Blütenblättchen nach dem anderen auszuzupfen und dabei zu murmeln: »Er liebt sie, er liebt sie nicht, sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht…«
»›Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht ihren Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.‹«
»Hat Paulus gesagt. Aber die Liebe hat auch andere Gesichter.«
»Ist es dann noch Liebe?«
»Halten die Menschen es nicht dafür?«
»Haltet Ihr es dafür?«
»Pater, mich dürft Ihr nicht nach Liebe fragen.«
»Nein, Begine?«, fragte er sehr sanft, und eine heiße Welle durchbebte Almut plötzlich. Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Doch ihr war selbst nicht ganz klar, warum.
Nüchtern meinte der Mann neben ihr dann aber: »Gut, so will ich Euch vorschlagen, darüber nachzudenken, welche Spuren wir nun verfolgen wollen.«
Almut hatte sich wieder gefasst und meinte: »Ist Recht. Sprecht.«
»Wir beide werden dem Geheimnis des dunklen Spiegels nachgehen, denn mir scheint es überaus wichtig, auf welche Art Jean umgebracht worden ist, da nun erwiesen ist, dass es Eure Arznei nicht gewesen sein kann. Ich werde mich um unseren munteren Geschäftemacher Tilmann kümmern, und Ihr solltet einem typisch weiblichen Laster frönen und auf Klatsch und Tratsch hören, der sich um Frau Dietke rankt. Diese Aufgabe wird Euch sicher nicht schwer fallen, oder, Begine?«
»Und anschließend darf ich wieder eine Woche lang keine süßen Wecken essen?«
»Wieso? Was hindert Euch, süße Wecken… Oh, ja. Ich erinnere mich. Eure Buße! Nun, ich hoffe, Ihr seid nicht zu oft in Versuchung geführt
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