Der dunkle Thron
Alte …«
Ja, du hast mir auch gefehlt, Sumpfhexe , dachte Nick wütend. Er stand auf. »Entschuldigt mich. Ich bin völlig erledigt. Gute Nacht.«
Sein Vater erhob sich ebenfalls und reckte sich verstohlen. »Zu Fuß von Tickham bis nach Waringham, so etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört.« Zu dem kleinen Schlagabtausch zwischen seiner Gemahlin und seinem Sohn äußerte er sich nicht, so wie meistens. »Warum hast du dir dort keinen Gaul geliehen?«
»Ich war ganz dankbar für den Fußmarsch.«
»Oh, gewiss doch«, murmelte Louise vor sich hin. »Es hatte bestimmt nichts damit zu tun, dass er Angst vor Pferden hat.«
Nick erwachte vor Tagesanbruch, denn sein Körper war noch an den Rhythmus seines Schulalltags gewöhnt, der stets mit einer Messe vor dem Frühstück begonnen hatte. Er drehte sich auf den Rücken, sah in den grünen Baldachin seines Bettes hinauf und genoss das Gefühl, nicht sofort aufstehen, die Trägheit seiner Glieder überwinden und seinen Geist schärfen zu müssen. Er war gern zur Schule gegangen. Er hatte viel Spaß mit seinen Mitschülern gehabt, und er hatte sogar die meisten der Lehrer gemocht. Alle waren sie anspruchsvoll gewesen, manche furchtbar streng, und sie hatten mit der Rute nicht gerade gegeizt, zumal Sir Thomas ja bekanntermaßen die Auffassung vertrat, dass es dem Seelenheil zuträglich sei, das schwache Fleisch zu züchtigen. Aber nicht einer unter ihnen war ein grausamer Schinder gewesen, wie es sie so zahlreich in so vielen Schulen gab. Sir Thomas hatte sie mit Sorgfalt und Klugheit ausgewählt, und allesamt waren sie großartige Gelehrte. Nick hatte das Privileg immer zu schätzen gewusst, das ihm zuteil wurde. Aber zwei Jahre, fand er, waren lange genug. Hubert Rudstone und ein paar der anderen würden vermutlich vier oder fünf Jahre in Sir Thomas’ Haushalt bleiben, um dann nach Oxford oder Cambridge zu gehen, aber da Nick von Anfang an gewusst hatte, dass das nicht sein Weg war, hatte ihn in den letzten Monaten immer häufiger das Gefühl gequält, dass er seine Zeit vergeudete. Denn wo sein Weg lag, wusste er nicht, und er fand, es sei höchste Zeit, es herauszufinden.
Er rollte sich aus dem Bett, wusch sich Gesicht und Hände in der Schüssel auf der Kommode unter dem Fenster, fuhr sich ohne erkennbaren Erfolg mit dem Hornkamm durch den kinnlangen blonden Lockenschopf, und während er sich anzog, hielt er Zwiesprache mit seiner Mutter.
»Vermutlich ist es dumm, dass ich mir darüber den Kopf zerbreche, oder?«, fragte er das Bildnis, das neben seinem Bett an der holzgetäfelten Wand hing, und schnürte das Hemd zu. »Ich werde der nächste Earl of Waringham sein, und wenn man das ein bisschen ernster nimmt als mein zerstreuter Vater, ist es vermutlich Lebensaufgabe genug.«
Die schöne, hellhäutige Frau mit dem weißen Kleid und dem rötlich blonden Haar unter der Haube zeigte ihr ewig gleiches, verhaltenes Lächeln. Ihre blaugrauen Augen schienen den Blick des Betrachters direkt zu erwidern und folgten ihm, ganz gleich in welchen Winkel des Raumes er ging. Wäre es nicht seine Mutter, dachte er manchmal, hätte dieser durchdringende Blick ihn vermutlich beunruhigt. Aber so erwiderte er ihn ohne Unbehagen.
Über das Leinenhemd streifte Nick das blaue Wams mit den gefältelten Ärmeln, das ihm bis auf die Oberschenkel reichte. Dann stieg er in die Hose, deren Beine eine Handbreit oberhalb des Knies weit und bauschig wurden, was sie wunderbar bequem machte. Mit Schnüren an der Seite wurde die Hose innen ans Wams genestelt, damit sie hielt.
»Wenn ich mir richtig viel Mühe gebe, könnte ich vielleicht sogar das Eis brechen und in den Dienst des Königs treten. Wie fändest du das?« Er schnallte den schmalen Ledergürtel um. Die ärmellose Schaube, die die Oberbekleidung vervollständigte, war vorne offen, aus dunkelblauem Samt und hatte einen breiten Kragen. »Ich meine, wie lange sind wir jetzt in Ungnade? Zehn Jahre? Das ist allmählich genug, oder? Und was immer der Grund war, der König kann nicht allein schuld gewesen sein. Ganz gleich, was Vater über ihn denken mag … Nicht, dass ich wüsste , was er über ihn denkt, aber du verstehst schon, was ich meine. Sir Thomas jedenfalls ist voller Verehrung für den König. Und ich schätze, sein Urteil ist über jeden Zweifel erhaben, oder?«
Er schlüpfte in seine Halbschuhe, setzte das flache Barett auf und verließ das Gemach.
Seine Mutter lächelte.
Nick lief die zwei Treppen hinab und
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