Der dunkle Thron
knochig und ungelenk wie Heranwachsende es taten, wenn sie schneller wuchsen, als sie essen konnten. Er kommt daher wie ein ausgehungertes Fohlen, dachte Nick und lächelte, aber der Blick seines Bruders blieb distanziert.
»Keine sehr glücklichen Umstände, Ray, aber ich freue mich, dich zu sehen.«
»Das kann ich umgekehrt nicht behaupten«, gab Raymond zurück.
George Boleyn ohrfeigte ihn. Seine Miene wirkte abwesend, geradezu benommen, aber die Ohrfeige hatte gesessen. »Sei gefälligst höflich«, schnauzte er.
»He«, protestierte Nick. »Lasst ihn zufrieden.«
»Misch dich nicht ein«, fuhr Raymond ihn an. »Ich bin sein Page, also halt dich aus unseren Angelegenheiten.«
»Entschuldige mal, ich bin dein Bruder.«
Raymond schnaubte verächtlich. »Du bist ein Verräter, Nick. Darum magst du zwar der Sohn meines Vaters sein, aber du bist ganz gewiss nicht mein Bruder.«
Nick musste blinzeln. Es fühlte sich an, als hätte Raymond ihm einen Dolch mitten ins Herz gestoßen. Einen Moment stand er mit herabbaumelnden Armen da und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Schließlich antwortete er: »Dein Urteil über mich ist hart und unbarmherzig wie immer. Vielleicht sogar zu Recht, wer weiß.« Dann nahm er George Boleyn beim Arm, der sich willenlos zum Tisch hinüberführen und in einen der Stühle hinabdrücken ließ. Nick füllte einen Becher, stellte ihn vor seinen ungeladenen Gast und fragte: »Was ist passiert?«
Boleyn strich sich mit der Linken über die unrasierte Wange. »Cromwell hat heute Morgen die Königin verhaften lassen. Auf Befehl des Königs, natürlich.«
»Wie lautet der Vorwurf?«
»Ehebruch.« Es war ein so tonloses Flüstern, dass Nick nicht sicher war, ob er ihn richtig verstanden hatte. Boleyn starrte den Weinbecher an, als frage er sich, welchem Zweck ein solches Gefäß diente, dann ergriff er ihn und trank einen Schluck. »Ehebruch«, wiederholte er mit festerer Stimme und schüttelte den Kopf. »Was in ihrem Fall natürlich bedeutet: Verrat.«
»Ähm … mit wem?«, fragte Nick behutsam.
»Sie ist unschuldig, Waringham«, beteuerte Boleyn und sah ihn an, als hinge sein Leben davon ab, dass Nick ihm glaubte. »Sie … sie vergöttert den König. Sie würde niemals …« Er musste sich unterbrechen, wandte den Kopf ab und verbarg das Gesicht in den Händen, bis er sich wieder gefasst hatte. Dann fuhr er fort: »Alles, was ich Euch sagen kann, ist, dass Cromwell vorgestern Mark Smeaton verhaftet hat.«
»Nie gehört. Wer ist das?«
»Ein … ein Musiker aus dem Haushalt der Königin. Netter Kerl. Er hat als Chorknabe bei Wolsey angefangen. Wundervolle Stimme, und er spielt die Laute und das Virginal und all das Zeug. Komponiert auch. Er hat die Königin immer angehimmelt, aber er würde niemals … Ich meine, sie würde niemals …«
Es war einen Moment still. Schließlich fragte Nick: »Aber wenn es um einen angeblichen Ehebruch geht, Mylord, was um alles in Welt tut Ihr dann hier?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Boleyn. »Ich weiß nur, dass wir alle beim Maifeier-Turnier in Greenwich waren und uns famos amüsierten, bis der König auf einmal ohne erkennbaren Grund verschwand. Dann wurde ich vor den Augen der Welt – praktisch aus dem Sattel heraus – verhaftet. Aber Cromwell hat es nicht für nötig befunden, mir irgendetwas zu erklären.«
»Nein. Ich nehme an, er hat devot gelächelt und vorgegeben, die ganze Sache sei ihm schrecklich unangenehm, und gesagt, es werde sich gewiss alles aufklären.«
George Boleyn fiel aus allen Wolken. »Woher wisst Ihr das?«
Nick lachte bitter und wechselte einen Blick mit seinem Bruder. »Sag du es ihm«, forderte er ihn auf.
Zögernd trat Raymond näher, blieb vor Boleyn stehen und erklärte: »Genau das hat er bei der Verhaftung meines Vaters gesagt.« Er zögerte einen Moment und fuhr dann schüchtern fort: »Mylord …«
»Hm?«, machte Boleyn zerstreut.
»Master Smeaton … ist gewiss ein großer Bewunderer der Königin, aber er … Ich glaube, er hat nicht viel mit Frauen im Sinn.«
George Boleyn schenkte ihm plötzlich seine ganze Aufmerksamkeit. »Was versuchst du mir zu sagen, Raymond? Ist er dir etwa an die Wäsche gegangen?«
Der Knabe errötete, sah ihn aber weiter unverwandt an und schüttelte den Kopf. »So was tut er nicht. Aber er hat … einen Liebhaber.«
»Wen?«
»Felix Fulham, einen Kaplan aus der Königlichen Kapelle, Mylord.«
»Woher weißt du das?«
»Von meiner
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