Der dunkle Thron
höflich, aber distanziert. Nick durchschaute nicht, wie Raymond zu seinem so viel älteren Cousin stand, aber der Junge erfüllte seine Pflichten tadellos. Er holte für sie alle die Mahlzeiten aus der Küche, erledigte Boleyns zahlreiche Botengänge zum Constable oder zu Freunden in der Stadt, hielt seine Garderobe in Ordnung und spielte mit ihm Schach oder Karten, weil Nick meist nicht wollte.
Aber zu dritt war es eng in der Turmkammer, und das war nicht gerade dazu angetan, die Stimmung zu heben.
»Wo bleibt dieser nichtsnutzige Halunke, der den Nachttopf leert?«, grollte Boleyn. »Das verdammte Ding ist voll.«
Nick saß am Fenster und las Vergil. »Vielleicht versuchst du heute ausnahmsweise einmal, ihn nicht anzuschnauzen«, schlug er vor, ohne aufzuschauen. »Gib ihm einen Penny, dann kommt er morgen bestimmt eher.«
»Ich hab ihn gestern schon bezahlt«, gab Boleyn grantig zurück. »Ich würde sagen, du bist dran.«
Die meist vornehmen Häftlinge im Tower, die auch hier nicht auf Dienerschaft und feine Speisen verzichten wollten, mussten für alle Annehmlichkeiten bezahlen, und natürlich waren die Preise gesalzen.
Nick blätterte eine Seite um und nickte abwesend. »Meine Börse liegt auf der Truhe.«
Boleyn lief zwischen Tisch und Bett auf und ab. Er erinnerte Nick an die Löwen, die hier in einem eigens für sie erbauten Turm in Käfigen gehalten wurden. »Verflucht noch mal … ich muss pissen!«
Nick klappte das Buch zu. »George, komm schon, setz dich hin. Der Junge wird schon auftauchen. Denk so lange an etwas anderes …«
Boleyn setzte sich folgsam auf einen der Stühle, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, steckte den linken Daumennagel unter den rechten, ließ sie knipsen, dann den rechten unter den linken, ließ sie erneut knipsen, wieder und wieder, in schneller Folge. Das tat er die ganze Zeit und trieb Raymond damit an den Rand des Wahnsinns, hatte Nick beobachtet.
Jetzt trat der Junge mit zusammengebissenen Zähnen zu seinem Cousin und fragte: »Soll ich vielleicht etwas auf der Laute spielen, Mylord?«
Nick ahnte, dass er es anbot, um das abscheuliche Fingernagelgeräusch zu übertönen, aber gegen ein wenig Musik hatte er nichts einzuwenden, zumal der Junge ein hervorragender Lautespieler geworden war. Nick hatte sich dabei ertappt, dass er Raymond um den höfischen Schliff beneidete.
»Ja, meinetwegen«, stimmte Boleyn zu.
Raymond nahm das Instrument, das an der Wand lehnte, auf den Schoß, aber kaum hatte er es gestimmt und die ersten Takte angeschlagen, öffnete sich die Tür.
»Ich störe ausgesprochen ungern, Gentlemen …«
Genau wie Raymond und George wandte Nick den Kopf, und beiläufig nahm er zur Kenntnis, dass er allein vom Klang dieser Stimme eine Gänsehaut auf Armen und Beinen bekam. »Master Cromwell«, grüßte er frostig.
Raymond verneigte sich wortlos vor dem allmächtigen Sekretär des Königs, der inzwischen als Generalvikar der englischen Kirche auch deren Neuordnung und Reform kontrollierte.
George Boleyn nickte ihm knapp zu. »Cromwell.« Es klang, als spie er den Namen aus.
Der kleine Mann mit der drolligen Knollennase verschränkte die Hände auf dem Rücken, wippte einen Moment auf den Fußballen und sah von Nick zu Boleyn und wieder zurück. Nick wusste genau, was er tat: Er lässt uns zappeln. Wir sollen rätseln, wen von uns beiden er holen kommt. Er will uns schwitzen sehen, und er will, dass wir uns gegenseitig hassen statt ihn …
Demonstrativ klappte er sein Buch wieder auf. »Irgendetwas, das wir für Euch tun können?«
Cromwells Augen verschwanden beinah in den Lachfalten, die sie umkränzten, als er Nick mit einem anerkennenden Lächeln bedachte. Dann streckte er Boleyn einladend die Linke entgegen. »Lord Rochford? Wäret Ihr wohl so gut, mich zu begleiten?«
George Boleyn saß einen Moment wie erstarrt. Das einzige, was sich bewegte, war sein großer Adamsapfel. Sein Zögern währte nur ein paar Atemzüge lang, aber die beiden Wachen, die an der Tür gewartet hatten, machten einen Schritt in den Raum hinein.
Raymond warf Boleyn einen furchtsamen Blick zu.
Der nahm sich zusammen, stand auf und erwiderte mit der gleichen aufgesetzten Fröhlichkeit: »Ich brenne darauf, Sir …«
Cromwell ließ ihm den Vortritt, und im Hinausgehen zwinkerte er Nick zu. »Ich hoffe, Ihr könnt Euch noch ein wenig gedulden, Mylord. In ein paar Tagen werde ich auch endlich für Euch Zeit haben.«
Die Tür fiel polternd zu, der
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