Der dunkle Thron
hatte. In ihrer Einsamkeit und Furcht folgte Polly Nick auf Schritt und Tritt, und er erstickte beinah in ihrer ständigen Nähe. Nachts klammerte sie sich an ihn, und wenn sie glaubte, er schliefe, weinte sie bitterlich.
So war es gekommen, dass Polly genauso erleichtert gewesen war wie Nick, als er sie zu den Weihnachtsfeierlichkeiten mit an den Hof genommen hatte. Das war vor dreieinhalb Jahren gewesen, und weder Polly noch die Kinder hatte man in Waringham seither gesehen.
Genau wie Mary hatte auch Lord Shelton immer Diskretion gewahrt, und im vergangenen Winter war er gestorben. Die Damen und Gentlemen im Haushalt des Prinzen hatten nie Verdacht geschöpft, Lady Waringham könne bäuerlicher Herkunft sein, weil sie ihnen keinen Anlass dazu gegeben hatte. Vielleicht wurde hier und da darüber spekuliert, warum Nick keine de Vere oder Fitzalan oder eine andere Dame des alten Adels geheiratet hatte, aber sie hielten Polly schlimmstenfalls für die Tochter irgendeines unbedeutenden Landedelmanns aus Kent, Essex oder vielleicht Sussex. Polly hatte gelernt, feine Kleider zu tragen und Damasttuch mit Seidenfäden zu besticken, statt wie früher Wolle zu spinnen, und dass sie nicht lesen konnte, erregte keinen Argwohn, denn viele Gentlemen vom Lande vernachlässigten die Schulbildung ihrer Töchter. Wenn Polly nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, hielt sie sich einfach im Hintergrund und bestach durch vornehme Zurückhaltung. So war der öffentliche Skandal bislang ausgeblieben. Das änderte indes nichts an der Schande, die Nick empfand, denn er wusste ja, wer seine Frau in Wahrheit war …
Er fand sie in einem großen hellen Raum voller Kinder. Auf dem schwarz-weiß gefliesten Marmorboden war eine dicke Samtdecke ausgebreitet worden. Dort kniete Polly und hielt den zweieinhalbjährigen Prinzen mit dem linken Arm auf dem Schoß, während sie mit der Rechten ein Spielzeugpferd über die Decke schob. Prinz Edward verfolgte dessen Weg mit konzentrierter Miene, ebenso wie seine gleichaltrige Cousine Jane Grey – Suffolks Enkelin. An einem Tisch vor einem der hohen Fenster saßen Nicks Kinder Eleanor und Francis mit der kleinen Elizabeth und Jerome Dudleys achtjährigem Neffen Robin über ihre Schularbeiten gebeugt. Ein Tutor mit strenger Miene schritt hinter ihnen auf und ab.
Bei Francis blieb er stehen. »Was soll das darstellen, Waringham?«
Der Fünfjährige sah zu ihm hoch. »Eine Reihe R’s, wie Ihr gesagt habt, Sir.«
Francis lernte gerade erst das Alphabet, während seine zwei Jahre ältere Schwester, der junge Dudley und Elizabeth schon die ersten lateinischen Vokabeln paukten.
Der Lehrer runzelte die Stirn. »Und du hast dir gedacht, je größer du die Buchstaben malst, desto schneller ist die Reihe voll?« Er verpasste dem Jungen eine Kopfnuss. »Ich schlage vor, du schreibst noch einmal zwei Reihen dazu, junger Mann.«
Francis’ Miene verfinsterte sich, bis er Nick an der Tür entdeckte. »Vater!« Er vergaß Lehrer und Schreibaufgaben, sprang von seinem Schemel auf und kam mit ausgestreckten Armen herübergelaufen. »Vater, endlich bist du gekommen!«
Nick hob ihn lachend zu sich hoch, küsste ihn auf die Stirn und setzte ihn auf seinen linken Arm. »Francis. Mir scheint, du bist schon wieder gewachsen. Bald kann ich gar nicht mehr Knirps zu dir sagen, Knirps.«
Der Junge kicherte und schlang die Arme um seinen Hals.
Auch die anderen Schulkinder nutzten die Entschuldigung dankbar, ihren Aufgaben für ein paar Augenblicke zu entrinnen, und standen auf, um den Ankömmling zu begrüßen.
Nick stellte Francis auf die Füße und beugte sich zu den Kindern herunter. Über ihre Köpfe hinweg zwinkerte er Polly zu. Sie setzte den Prinzen auf die Samtdecke und erhob sich.
»Habt Ihr uns wieder Orangen mitgebracht, Mylord?«, fragte Elizabeth.
»Habt Ihr das wilde Pferd dabei, von dem Ihr uns erzählt habt?«, wollte der junge Dudley wissen, dem kein Spiel je zu gefährlich war und der schon heute ein Draufgänger zu werden versprach.
Eleanors leise Stimme ging fast unter: »Kannst du dieses Mal ein paar Tage bleiben?«
Er strich ihr über den blonden Schopf. »Bis morgen früh«, antwortete er und wandte sich an ihre Mutter, um Eleanors Enttäuschung nicht sehen zu müssen.
Er nahm Pollys Rechte in beide Hände und führte sie an die Lippen. »Du bist eine Augenweide, Lady Waringham«, murmelte er.
Das war sie wirklich. Ihr Kleid war von einem schlichten Braun – der Position einer
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