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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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er … weil er gar nicht gerettet werden wollte.«
    »Nein, das ist wahr«, räumte Nick ein. »Und ich wollte ihn fortschicken, damit er vor dem Zorn des Königs sicher ist. Zu entfernten Verwandten in die Bretagne. Ich … habe den gleichen Fehler gemacht wie du. Ich habe einfach nicht gesehen, dass er Hilfe ganz anderer Art gebraucht hätte.«
    »Falls ihm überhaupt irgendwer hätte helfen können«, schränkte Jerome ein.
    Nick hob die Schultern. »Das werden wir nie wissen.« Er sah seine Stiefschwester wieder an. »Soll ich dich zu der Lichtung bringen?«
    Sie schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. »Ich weiß, wo sie ist. Sie war mein Versteck ebenso wie eures. Nur bin ich immer fortgeschlichen, wenn ich deine Schwester und dich kommen hörte.«
    Er nickte wortlos. Er hatte nie angenommen, dass es für sie leichter gewesen sei als für Laura oder ihn.
    »Lasst uns zusammen hingehen«, schlug Jerome impulsiv vor. »Vielleicht bringt ihr es am Grab eures Bruders ja fertig, euch nur ein einziges Mal die Hand zu reichen. Für ihn. Für sein Andenken. Ihr wisst doch genau, wie sehr er sich immer gewünscht hat, ihr könntet Frieden schließen.«
    Nick und seine Stiefschwester tauschten einen verstohlenen, skeptischen Blick.
    Jerome ging zur Tür, öffnete und sah die Stiefgeschwister erwartungsvoll an. Beide zögerten noch einen Moment. Dann folgten sie ihm hinaus.

Greenwich, Februar 1542
    »Das war das abscheulichste Weihnachtsfest, das ich bei Hofe je erlebt habe«, befand Mary. »Das Christfest nach dem Tod von Jane Seymour war schon schlimm. Aber dieses Jahr …« Sie schüttelte den Kopf.
    »In Waringham war die Weihnachtsstimmung auch schon ausgelassener«, bemerkte Nick.
    Seite an Seite stapften sie durch den Schnee wie ungezählte Male zuvor. Die Parkanlagen des Palastes in Greenwich reichten kaum aus, um Marys Bewegungsdrang zu genügen, darum absolvierte sie die komplette Runde über die geschlängelten Pfade mindestens zweimal bei jedem ihrer Spaziergänge. Eine milchige Sonne schien durch die Wolkendecke und ließ die Eiszapfen an den kahlen Bäumen dann und wann silbrig schimmern. Der Weiher war zugefroren, und die Welt war still.
    »Um dir die Wahrheit zu sagen, Nick, ich habe Mühe, Mitgefühl für meinen Vater aufzubringen«, bekannte die einstige Prinzessin unvermittelt.
    Nick wandte den Kopf und studierte einen Moment ihr Gesicht. Es war ernst wie meistens, aber er entdeckte einen neuen Zug um den Mund, der vielleicht Bitterkeit, vielleicht auch nur Entschlossenheit ausdrückte, der ihre Lippen jedenfalls schmal erscheinen ließ und ihr deswegen nicht stand. »Das überrascht mich«, gestand er. »Früher hattest du immer Verständnis und Mitgefühl für deinen Vater, ganz gleich, was er dir antat.«
    »Ich weiß«, räumte sie ein, nahm die Linke aus dem Pelzmuff und brach versonnen einen besonders schönen, filigranen Eiszapfen von einem Strauch voll leuchtend roter Beeren. »Früher habe ich ihn angebetet. So sehr ich meine Mutter geliebt habe; mein Vater war der Mittelpunkt meines Lebens. Und ich habe das nie hinterfragt, denn es ist das, was Gott uns befohlen hat.«
    » Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es in der Bibel. Von ›anbeten‹ steht dort nichts.«
    »Hm«, machte sie zustimmend. »Doch selbst ›ehren‹ fällt mir heute oft schwer. Nicht weil er alt und feist geworden ist und vor Selbstmitleid zerfließt.«
    »Sondern?«
    Mary antwortete nicht sofort. Sie zog mit ihrem Eiszapfen eine Furche in das Schneehäubchen auf der Krone einer niedrigen Buchenhecke. »Der König … zerstört alles, was er berührt, Nick.«
    »Ja, ich weiß.« Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, aber Lady Claire war wieder einmal dreißig Schritt zurückgefallen. Sie waren allein.
    Mary blieb an einer Laube stehen, wo im Sommer Weinranken eine steinerne Bank beschatteten. Jetzt waren die knorrigen Zweige kahl, aber die Bank war trotzdem fast trocken. Nick wischte mit dem Ärmel darüber, und nachdem Mary Platz genommen hatte, setzte er sich neben sie.
    Sie wandte sich ihm zu. »Es tut mir so leid wegen deines Bruders.«
    Das traf ihn unvorbereitet. »Tatsächlich? Ich hatte damit gerechnet, dass gerade du seine Tat auf das Schärfste verurteilen würdest.«
    »Und eigentlich sollte ich das auch, nicht wahr? Es ist eine furchtbare Sünde. Aber ganz gleich, wie ich es betrachte, komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass auch dein Bruder zu den Menschen zählt, die der König

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