Der Dunkle Turm 3 - Tot
sputen – es war fast drei Uhr –, aber er blieb dennoch einen Moment stehen und betrachtete das Plakat hinter dem schmutzigen, gesprungenen Glas. Eastwood trug einen mexikanischen Poncho. Er hatte einen Zigarillo zwischen den Zähnen. Eine Seite des Ponchos hatte er über die Schulter geworfen und den Revolver freigelegt. Seine Augen waren blaßblau. Kanoniersaugen.
Das ist er nicht, dachte Jake, aber er ist es fast. Hauptsächlich wegen der Augen. Die Augen sind beinahe dieselben.
»Du hast mich fallenlassen«, sagte er zu dem Mann auf dem Plakat, dem Mann, der nicht Roland war. »Du hast mich sterben lassen. Was passiert diesmal?«
»He, Junge«, rief die blonde Kartenverkäuferin, und Jake zuckte zusammen. »Kommst du rein, oder stehst du nur da und führst Selbstgespräche?«
»Ich nicht«, sagte Jake. »Die zwei habe ich schon gesehen.«
Er setzte sich wieder in Bewegung und bog an der Markey Avenue links ab.
Er wartete darauf, daß das Gefühl, sich voraus zu erinnern, wiederkommen würde, aber es kam nicht. Dies hier war nur eine heiße, sonnige Straße mit sandsteinfarbenen Mietshäusern, die für Jake wie Gefängnisblocks aussahen. Ein paar junge Frauen schlenderten dahin, schoben in Zweiergruppen Kinderwagen und unterhielten sich mürrisch, aber sonst war die Straße verlassen. Es war ungewöhnlich heiß für Mai – zu heiß zum Spazierengehen.
Wonach suche ich? Wonach?
Hinter ihm ertönte eine rauhe männliche Lachsalve. Dieser erfolgte ein erboster weiblicher Aufschrei: »Gib das zurück!«
Jake zuckte zusammen, weil er dachte, die Frau, der die Stimme gehörte, müßte ihn meinen.
»Gib es zurück, Henry! Das ist mein Ernst!«
Jake drehte sich um und sah zwei Jungs, einer mindestens achtzehn, der andere viel jünger… zwölf oder dreizehn. Beim Anblick dieses zweiten Jungen machte Jakes Herz so etwas wie einen Purzelbaum in der Brust. Der Junge trug keine Madras-Shorts, sondern grüne Kordhosen, aber das gelbe T-Shirt war dasselbe, und er trug einen zerschrammten alten Basketball unter einem Arm. Obwohl er Jake den Rücken zugedreht hatte, wußte Jake, daß er den Jungen aus dem Traum von gestern nacht gefunden hatte.
21
Das Mädchen war die kaugummikauende Schöne aus dem Kartenhäuschen. Der ältere der beiden Jungs – der fast so alt aussah, daß man ihn einen Mann nennen konnte –, hielt ihre Zeitung in der Hand. Sie griff danach. Der Zeitungsdieb – er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit hochgerollten Ärmeln – hielt sie über den Kopf und grinste.
»Spring doch, Maryanne! Spring, Mädchen, spring!«
Sie sah ihn mit wütendem Blick und geröteten Wangen an. »Gib sie mir!« sagte sie. »Hör auf, mich zu verarschen, und gib sie mir wieder! Drecksack!«
»Ooooh, nu hör dir das an, Eddie!« sagte der ältere Junge. »Wassene Aussucksweise! Schlimm, schlimm!« Er schwenkte die Zeitung grinsend gerade außerhalb der Reichweite des Mädchens, und plötzlich begriff Jake. Die beiden gingen von der Schule nach Hause – auch wenn sie wahrscheinlich nicht dieselbe besuchten, falls er den Altersunterschied richtig einschätzte –, und der größere Junge war zum Kartenhäuschen gegangen und hatte so getan, als wollte er der Blondine etwas Interessantes erzählen. Dann hatte er durch den Schlitz im Glas gegriffen und die Zeitung herausgezogen.
Das Gesicht des großen Jungen hatte Jake schon oft gesehen; es war das Gesicht eines Jungen, der es den Gipfel des Humors fand, den Schwanz einer Katze mit Feuerzeugbenzin zu übergießen oder einem hungrigen Hund einen Brotball mit einem Angelhaken in der Mitte zu füttern. Die Art Junge, der in der letzten Reihe saß und Krampen schoß und mit einem breiten, dummen Ausdruck gespielter Überraschung »Wer, ich?« sagt, wenn sich schließlich einmal jemand beschwert. Viele wie ihn gab es nicht an der Piper, aber es gab welche. Jake schätzte, daß es sie an jeder Schule gab. An der Piper waren sie besser gekleidet, aber das Gesicht war dasselbe. Er vermutete, in alten Zeiten hätten die Leute gesagt, es war das Gesicht eines Jungen, der zum Hängen geboren war.
Maryanne sprang nach ihrer Zeitung, die der ältere Junge in der schwarzen Hose zu einer Röhre gerollt hatte. Er zog sie weg, bevor sie sie zu fassen bekam, dann schlug er ihr damit auf den Kopf. Wie man einen Hund schlagen mochte, weil er auf den Teppich gepinkelt hat. Sie fing jetzt an zu weinen – hauptsächlich wegen der Demütigung, vermutete Jake. Ihr
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