Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Gelegenheit verschafft hat, das einzige Schicksal zu erfüllen, das Ka mir jemals gelassen hat. Nicht Sayre, sondern ein viel Größerer. Jemand, dem Sayre untersteht. Ein Mann namens Walter.«
Susannah fuhr bei der Erwähnung von Rolands uralter Nemesis zusammen. Mia sah zu ihr hinüber und bedachte sie mit einem grimmigen Lächeln.
»Wie ich sehe, kennst du diesen Namen. Nun, vielleicht erspart uns das ein paar Worte. Die Götter wissen, dass für meinen Geschmack schon viel zu viel geredet worden ist; das ist nichts, wofür ich geschaffen bin. Ich bin dafür gemacht, meinen kleinen Kerl zu gebären und aufzuziehen, nicht mehr als das. Aber auch nicht weniger.«
Susannah äußerte sich nicht dazu. Ihr Gewerbe war angeblich das Töten und Zeit totzuschlagen ihr gegenwärtiger Auftrag, aber in Wirklichkeit hatte sie angefangen, Mias Zielstrebigkeit etwas lästig zu finden. Von beängstigend ganz zu schweigen.
Als hätte sie diesen Gedanken erraten, sagte Mia: »Ich bin, was ich bin, und ich bin damit zufrieden. Was kümmert’s mich, wenn andere das nicht sind? Ich spucke auf sie!«
Gesprochen wie Detta Walker in ihrer trotzigsten Art, dachte Susannah, ohne jedoch etwas zu erwidern. Schweigen erschien ihr sicherer.
Nach einer Pause fuhr Mia fort: »Trotzdem würde ich lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass die Rückkehr hierher… bestimmte Erinnerungen weckt. Yar!« Unerwarteterweise lachte sie auf einmal. Ebenso unerwartet war es, dass ihr Lachen wundervoll melodisch klang.
»Erzähl deine Geschichte«, sagte Susannah. »Diesmal will ich sie ganz hören. Wir haben genügend Zeit, bevor die Wehen wieder einsetzen.«
»Sagst du das?«
»Das tue ich. Erzähl!«
Einige Augenblicke lang sah Mia nur über die Straße mit dem staubigen Lehmbelag und ihrer Atmosphäre trauriger und uralter Verlassenheit hinaus. Während Susannah darauf wartete, dass das Geschichtenerzählen endlich begann, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie still und schattenlos Fedic war. Obwohl sie alles sehr gut sehen konnte und anders als auf dem Wehrgang des Schlosses kein Mond am Himmel stand, zögerte sie, den hiesigen Zustand als Tag zu bezeichnen.
Dieser Ort ist zeitlos, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren – sie wusste nicht, wessen Stimme. Dies ist ein Zwischenort, Susannah; ein Ort, an dem Schatten sich gegenseitig aufheben und die Zeit den Atem anhält.
Schließlich erzählte Mia ihre Geschichte. Sie war kürzer, als Susannah erwartet hatte (und kürzer, als sie sich wünschte, wenn sie an Eddies Ermahnung dachte, diesen Tag möglichst zu verplempern), aber sie erklärte sehr viel. Eigentlich sogar mehr, als Susannah gehofft hatte. Sie hörte mit wachsendem Zorn zu, und wer konnte ihr das verübeln? An jenem Tag im Ring aus Steinen und Knochen war sie anscheinend nicht nur vergewaltigt worden. Sie war auch beraubt worden – war ein Opfer des seltsamsten Raubes geworden, den je eine Frau erlitten hatte.
Und er dauerte weiter an.
11
»Blick dort hinaus, wenn’s beliebt«, sagte die neben Susannah auf dem Plankengehsteig sitzende Frau mit dem dicken Bauch. »Blick hinaus, und sieh Mia, bevor sie ihren Namen erhielt.«
Susannah sah auf die Straße hinaus. Anfangs sah sie nur ein ausrangiertes Wagenrad, einen zersplitterten (und seit langem trockenen) Wassertrog und ein sternförmiges silbernes Ding, das wie das abgefallene Sporenrädchen irgendeines Cowboys aussah.
Dann bildete sich langsam eine nebelhafte Gestalt heraus. Die einer nackten Frau. Ihre Schönheit war blendend – das wusste Susannah, noch bevor die Frau vollständig sichtbar geworden war. Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Ihr schwarzes Haar streifte die Schultern. Ihr Bauch war flach, der Nabel eine reizende Mulde, in die jeder Mann, der jemals Frauen geliebt hatte, begierig seine Zunge getaucht hätte. Susannah (oder vielleicht war es auch Detta) dachte: Teufel, ich könnte meine eigene hineintauchen. Zwischen den Schenkeln des Geisterwesens lag eine lockende Spalte verborgen. Hier war eine andere Anziehungskraft spürbar.
»Das war ich, als ich hergekommen bin«, sagte die neben Susannah sitzende schwangere Version. Sie sprach fast wie eine Frau, die Feriendias vorführte. Das bin ich am Grand Canyon, das bin ich in Seattle, das bin ich am Grand-Coulee-Staudamm, das bin ich auf der Hauptstraße in Fedic, wenn’s beliebt. Auch die Schwangere war schön, aber nicht auf so unheimliche Weise wie das Geisterwesen auf der Straße. Beispielsweise
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