Der Dunkle Turm 6 - Susannah
fragte Mia schüchtern wie ein Mädchen, das zu seiner ersten Tanzveranstaltung kam. Wirklich?
Ja, mach schon. Wir haben nur einen Block weit zu gehen, und auf den Avenues sind die Straßenblocks kurz.
Der Fahrer… wie viel soll ich dem Fahrer geben?
Gib ihm einen Zehner und lass ihn das Wechselgeld behalten. Los, zeig mir die Geldscheine…
Susannah spürte Mias Zögern und reagierte leicht verärgert. Die ganze Sache war in gewisser Weise fast amüsant.
Hör zu, Liebste, ich will nichts mehr damit zu tun haben. Okay? Gib ihm irgendeinen beschissenen Geldschein, den du für richtig hältst.
Nein, nein, ist schon in Ordnung. Jetzt demütig. Ängstlich. Ich vertraue dir, Susannah. Daraufhin hielt sie sich die restlichen der von Mats stammenden Geldscheine wie Spielkarten aufgefächert vors Gesicht.
Susannah hätte große Lust gehabt, sich zu verweigern, aber wozu? Sie kam nach vorn, übernahm die Herrschaft über die braunen Hände, die das Geld hielten, wählte einen Zehner aus und gab ihn dem Fahrer. »Der Rest ist für Sie«, sagte sie.
»Danke, Lady!«
Susannah öffnete die Tür zum Gehsteig hin. Als sie das tat, begann eine Roboterstimme zu sprechen und erschreckte sie – erschreckte sie beide. Das war eine Frau namens Whoopi Goldberg, die sie ermahnte, ihr Gepäck mitzunehmen. Für Susannah-Mia war die Frage ihrer Gunna müßig. Es gab nur ein Gepäckstück, das sie jetzt interessierte, und von dem würde Mia bald entbunden werden.
Sie hörte Gitarrenmusik. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre Gewalt über die Hand, die das Geld wieder in ihre Tasche stopfte, und die Beine, die aus der Wagentür schwangen, schwächer wurde. Mia übernahm wieder den Befehl, nachdem Susannah jetzt ein weiteres ihrer kleinen New Yorker Dilemmas gelöst hatte. Susannah strengte sich an, sich gegen diese Usurpation zur Wehr zu setzen
(mein Körper, verdammt noch mal, meiner, zumindest von der Taille an aufwärts, und dazu gehören der Kopf und das Gehirn darin!)
und gab dann auf. Was brachte das schon? Mia war einfach stärker. Susannah hatte keine Ahnung, woran das liegen mochte, aber ihr war klar, dass dem so war.
Zu diesem Zeitpunkt war Susannah Dean von einem merkwürdigen Bushido-Fatalismus erfasst worden. Es war die Art Ruhe, die Fahrer erfasste, deren Autos steuerlos auf Brückengeländer zuschleuderten, die Piloten von Flugzeugen, die sich mit stehenden Triebwerken zu ihrem letzten Sturzflug auf den Kopf stellten… und Revolvermänner, die sich zum letzten Mal zwanghaft in eine Situation brachten, in der sie ziehen oder aber klein beigeben mussten. Später würde sie vielleicht kämpfen, wenn ein Kampf ihr lohnend oder ehrenvoll erschien. Sie würde kämpfen, um sich selbst oder das Baby zu retten, nicht jedoch Mia – das war ihr Entschluss. In Susannahs Augen hatte Mia jegliche Chance auf Rettung, die sie vielleicht einst verdient hatte, längst verspielt.
Im Augenblick blieb nichts anderes zu tun, als vielleicht die Anzeige WEHENSTÄRKE auf 10 zurückzustellen. Sie vermutete, dass Mia sie wenigstens das tun lassen würde.
Zuvor jedoch… die Musik. Die Gitarre. Es war ein Song, den sie kannte, den sie sehr gut kannte. Eine Version davon hatte sie am Abend ihrer Ankunft in Calla Bryn Sturgis vor den Folken gesungen.
Nach allem, was sie seit ihrer Begegnung mit Roland mitgemacht hatte, erschien es ihr durchaus nicht als Zufall, an dieser New Yorker Straßenecke ausgerechnet den Song »Man of Constant Sorrow« zu hören. Und es war ein wundervoller Song, nicht wahr? Vielleicht der Prototyp aller Folksongs, die sie als jüngere Frau so geliebt hatte, die sie Schritt für Schritt dazu verführt hatten, eine Aktivistin zu werden, und sie letztlich nach Oxford, Mississippi, gebracht hatten. Jene Tage waren längst vergangen – sie fühlte sich unendlich älter als damals –, aber die traurige Schlichtheit dieses Songs sprach sie noch immer an. Das Dixie Pig lag weniger als einen Straßenblock von hier entfernt. Sobald Mia sie durch dessen Türen transportiert hatte, würde Susannah im Land des Scharlachroten Königs sein. In Bezug darauf hegte sie keine Zweifel, machte sie sich keine Illusionen. Sie erwartete nicht, von dort zurückzukehren, rechnete nicht damit, ihre Freunde oder ihren Geliebten noch einmal wiederzusehen, und hatte eine Ahnung, zum Klagegeschrei der betrogenen Mia sterben zu müssen… aber nichts davon brauchte sie daran zu hindern, sich jetzt an diesem Song zu erfreuen. War er ihr Todeslied?
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