Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Philadelphia fand in John Bambrys Kirche eine Versammlung statt, bei der die hiesigen schwarzen Aktivisten den noch anwesenden etwa drei Dutzend Weißen aus dem Norden erklärten, im Licht der jüngsten Ereignisse stehe es ihnen natürlich frei, die Heimreise anzutreten. Und einige von ihnen sind heimgefahren, lobet den Herrn, aber Odetta Holmes und achtzehn andere bleiben. Ja. Sie bleiben im Hotel Blue Moon. Und manchmal gehen sie hinters Hotel hinaus, und Delbert Anderson bringt seine Gitarre mit, und sie singen.
»I Shall Be Released« singen sie, und
»John Henry« singen sie, wollen den Stahl weiter runterbügeln (sagt Gott, sagt Gott-Bombe), und sie singen
»Blowin’ in the Wind«, und sie singen den
»Hesitation Blues«, den der Rev. Gary Davis geschrieben hat, und lachen alle über liebenswert gewagte Strophen wie »A dollar is a dollar and a dime is a dime I got a houseful of chillun ain’t none of em mine«, und sie singen
»I Ain’t Marchin’ Anymore«, und sie singen
im Land der Erinnerung und dem Königreich des Vergangenen, sie singen
in der Heißblütigkeit ihrer Jugend, in der Stärke ihrer Körper, in der Zuversicht ihrer Gedanken, sie singen
um Discordia zu leugnen
um die Can Toi zu leugnen
als Bestätigung von Gan dem Macher, Gan dem Übel-Abwender
sie kennen diese Namen nicht
sie kennen alle diese Namen
das Herz singt, was es singen muss
das Blut weiß, was das Blut weiß
auf dem Pfad des Balkens kennt unser Herz alle Geheimnisse
und sie singen
singen
Odetta beginnt, und Delbert Anderson spielt; sie singt
»I am a maid of constant sorrow… I’ve seen trouble all my days… I bid farewell… to old Kentucky…«
7
So wurde Mia durch die nichtgefundene Tür ins Land der Erinnerung geleitet und auf die verunkrautete Grünfläche hinter Lester Bambrys Motor-Hotel Blue Moon versetzt, und so hörte sie…
(hört)
8
Mia hört, wie die Frau, die später Susannah werden wird, ihren Song singt. Sie hört, wie die anderen einstimmen, bis sie alle gemeinsam im Chor singen, und über ihnen steht der Mond von Mississippi, der sein Licht auf ihre Gesichter – manche schwarz, manche weiß – und auf die kalten Stahlschienen der hinter dem Hotel vorbeilaufenden Bahnstrecke fallen lässt: auf Gleise, die von hier aus nach Süden führen, die nach Longdale weiterführen, wo am 5. August 1964 die stark verwesten Leichen ihrer drei Freunde aufgefunden werden sollen – James Cheney, 21; Andrew Goodman, 20; Michael Schwerner, 24; o Discordia! Und ihr, die ihr Düsternis bevorzugt, könnt euch an dem roten Auge ergötzen, das hier leuchtet.
Sie hört sie singen.
»All thro’ this Earth I’m bound to ramble… Thro’ storm and wind, thro’ sleet and rain… I’m bound to ride that Northern rail-road…«
Nichts öffnet das Auge der Erinnerung besser als ein Song, und es sind Odettas Erinnerungen, die Mia ergreifen und mitreißen, als sie gemeinsam singen: Det und ihre Ka-Gefährten unter dem silbrigen Mond. Mia sieht sie von dort Arm in Arm fortgehen und dabei singen
(oh deep in my heart… I do believe…)
jenen anderen Song singen, der sie ihrer Überzeugung nach am klarsten kennzeichnet. Die Gesichter derer, die den Straßenrand säumen und sie beobachten, sind von Hass verzerrt. Die Fäuste, mit denen ihnen gedroht wird, sind schwielig. Die Münder der Frauen, die die Lippen spitzen, um den Speichel zu spucken, der über ihre Wangen laufen ihr Haar verkleben ihre Hemden und Blusen beflecken wird, sind ungeschminkt, ihre Beine sind unbestrumpft, und ihre Schuhe sind nichts als heruntergetretene unförmige Gebilde. Die Männer tragen Latzhosen (tatsächlich Oshkosh-Latzhosen, sagt jemand halleluja). Es gibt Jungen im Teenageralter in sauberen weißen Pullovern und mit Bürstenhaarschnitt, und einer von ihnen brüllt Odetta an, wobei er jedes einzelne Wort sorgfältig artikuliert: Wir Werden Jeden! Gottverdammten! Nigger! Töten! Der Einen Fuß Auf Den Campus Der Ole Miss setzt!
Und die Kameradschaft trotz der Angst. Wegen der Angst. Das Gefühl, dass sie etwas unglaublich Wichtiges tun: etwas für kommende Zeitalter. Sie werden Amerika verändern, und wenn der Preis dafür Blut ist, nun, dann werden sie ihn zahlen. Sprecht wahrhaftig, sagt halleluja, lobet den Herrn, sprecht ein lautes Amen.
Dann kam der weiße Junge namens Darryl, und anfangs konnte er nicht, er war schlaff und konnte nicht, aber später konnte er dann, und Odettas geheimes zweites
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