Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Uptown-Ecke von Second Avenue und Forty-sixth Street stand (wo sich früher ein bestimmtes Künstlerisches Delikatessengeschäft und später ein bestimmtes unbebautes Grundstück befunden hatte), dachte sie nicht an Götter oder Geister oder Besucher aus der spirituellen Welt. Sie dachte an Richard Goldman, das Arschloch von einem Direktor einer bestimmten Spielwarenfirma, und wie…
Aber dann änderte sich Trudys Leben. Um 13.19 Uhr östlicher Sommerzeit, um es genau zu sagen. Sie hatte gerade den Randstein auf der Downtown-Seite der Straße erreicht. War tatsächlich sogar dabei, einen Fuß darauf zu setzen. Und plötzlich erschien auf dem Gehsteig vor ihr eine Frau. Eine Afroamerikanerin mit großen Augen. In New York City herrschte zwar nicht gerade ein Mangel an Afroamerikanerinnen, und es musste weiß Gott einen ziemlichen Prozentsatz davon geben, die große Augen hatten, aber Trudy hatte noch nie erlebt, dass eine direkt vor ihr aus dem Nichts auftauchte, so wie diese es tat. Aber da war noch etwas anderes, was sogar noch unglaublicher war. Vor zehn Sekunden hätte Trudy Damascus lachend gesagt, nichts könne unglaublicher sein, als dass eine Frau sich vor ihr auf einem Midtown-Gehsteig materialisiere, aber so war es nun einmal. So und nicht anders.
Und jetzt wusste sie, wie es all diesen Leuten, die berichteten, sie hätten fliegende Untertassen gesehen (von Gespenstern in klirrenden Ketten ganz zu schweigen), zumute sein musste, wie sehr es sie frustrieren musste, auf den hartnäckigen Unglauben von Leuten wie… nun, von Leuten zu stoßen, zu denen Trudy Damascus an diesem Junitag noch um 13.18 Uhr gehört hatte – jene Frau, die sich auf der Downtown-Seite der Forty-sixth Street endgültig verabschiedete. Man konnte zu Leuten sagen Du verstehst mich nicht, das ist WIRKLICH passiert!, und es machte nicht den geringsten Eindruck. Sie sagten Zeug wie: Tja, sie ist vermutlich hinter dem Buswartehäuschen hervorgetreten, und du hast sie zuvor einfach nicht wahrgenommen, oder: Sie ist vermutlich aus einem der kleinen Läden gekommen, und du hast sie davor einfach nicht wahrgenommen. Man konnte ihnen erklären, dass es auf der Downtown-Seite von Second und Forty-sixth kein Buswartehäuschen gebe (übrigens auch auf der Uptown-Seite nicht), aber das würde alles nichts nutzen. Man konnte ihnen sagen, dort gebe es keine kleinen Läden, seit dem Bau des Gebäudes Hammarskjöld Plaza Nr. 2 nicht mehr, und auch das würde nichts helfen. Alle diese Dinge würde Trudy schon bald selbst herausbekommen, und sie würden sie fast zum Wahnsinn treiben. Sie war es nicht gewohnt, dass ihre Wahrnehmungen abgetan wurden, als wären sie nur ein Senfklecks oder ein Stück nicht ganz gare Kartoffel.
Kein Buswartehäuschen. Keine kleinen Lädchen. Es gab Stufen, die zur Hammarskjöld Plaza hinaufführten und auf denen noch ein paar Leute mit braunen Papiertüten saßen, aus denen sie ihren verspäteten Lunch aßen, aber die Geisterfrau war auch nicht von dort oben gekommen. Tatsache war vielmehr: Als Trudy Damascus ihren in einem Laufschuh steckenden linken Fuß auf den Randstein setzte, war der Gehsteig unmittelbar vor ihr noch völlig leer. Und als sie ihr Gewicht verlagerte, um den rechten Fuß vom Asphalt der Straße zu heben, erschien plötzlich die Frau vor ihr.
Für einen kurzen Augenblick konnte Trudy durch sie hindurch die Second Avenue sehen – und noch etwas anderes, etwas, was wie der Eingang einer Höhle aussah. Dann war dieser Eindruck verschwunden, und die Frau nahm solide Formen an. Nach Trudys Schätzung dauerte das Ganze wahrscheinlich nur ein, zwei Sekunden; später würde sie sich an die alte Redensart Hätte man geblinzelt, hätte man’s übersehen erinnern und sich wünschen, sie hätte geblinzelt. Weil es sich hier sogar um mehr als nur eine Materialisation handelte.
Die schwarze Lady ließ sich vor Trudy Damascus’ erstaunten Augen buchstäblich Beine wachsen.
Ganz recht: Sie ließ sich Beine wachsen.
Trudys Beobachtungsvermögen war durch nichts beeinträchtigt, und sie würde den Leuten (von denen immer weniger zuhören wollten) später erzählen, jede Einzelheit dieser kurzen Begegnung sei unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die Erscheinung war zunächst keine eineinviertel Meter groß gewesen. Für eine gewöhnliche Frau wäre das zwar ziemlich kurz geraten, wenn es nach Trudy ging, aber wiederum auch nicht für eine, die an den Knien aufhörte.
Die Erscheinung trug eine weiße
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