Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Bluse mit Flecken, die kastanienbraune Farbe oder getrocknetes Blut sein konnten, und Jeans. Dort, wo die Oberschenkel in den Hosenbeinen steckten, waren diese voll und rund, aber unterhalb der Knie lagen sie auf dem Gehsteig wie die abgestreiften Häute unheimlicher blauer Schlangen. Aber dann wurden sie plötzlich prall. Sie wurden prall, schon diese Worte klangen verrückt, aber Trudy sah es mit eigenen Augen. Von einer Sekunde auf die andere wuchs die Frau von ihrer Nichts-unterhalb-der-Knie-Größe von eineinviertel Meter auf ihre Alles-vorhanden-Größe von einem Meter fünfundsechzig oder gar siebzig. Das Ganze erinnerte an außergewöhnliche Trickaufnahmen aus einem Film, aber das hier war kein Film, das hier war Trudys Leben.
Über der linken Schulter trug die Erscheinung eine mit Stoff gefütterte Tasche, die aus Schilf geflochten zu sein schien. Darin schienen Teller oder Schüsseln zu stecken. Mit der rechten Hand umklammerte sie eine verblichene rote Tragetasche. Sie war oben mit einer Zugschnur geschlossen, enthielt etwas Quadratisches und schwang leicht hin und her. Trudy konnte nicht alles lesen, was auf der Seite der Tragetasche stand, glaubte später jedoch, unter anderem die Wörter MID-TOWN-BAHNEN gelesen zu haben.
Dann packte die Frau Trudy am Arm. »Was haben Sie da in Ihrer Tasche?«, fragte sie. »Haben Sie Schuhe dabei?«
Das brachte Trudy dazu, die Füße der Schwarzen zu begutachten, und dabei erwartete sie eine weitere Überraschung: Die Füße der Afroamerikanerin waren weiß. So weiß wie ihre eigenen.
Trudy hatte von Leuten gehört, die aus irgendeinem Grund sprachlos geworden waren; genau das war jetzt ihr zugestoßen. Die Zunge klebte ihr am Gaumen und wollte nicht wieder runterkommen. Trotzdem funktionierten ihre Augen wie gewohnt. Sie sah alles. Die weißen Füße. Die Tropfnasen auf dem Gesicht der Schwarzen, die ziemlich sicher getrocknetes Blut waren. Und sie nahm Schweißgeruch wahr, als wäre diese Materialisation auf der Second Avenue erst nach gewaltigen Anstrengungen möglich gewesen.
»Wenn Sie Schuhe dabeihaben, Lady, sollten Sie die lieber hergeben. Ich will Sie zwar nicht umbringen, aber ich muss unbedingt zu Leuten, die mir mit meinem kleinen Kerl helfen werden, und das geht nun mal nicht barfuß.«
Auf dem kleinen Stück der Second Avenue hier war niemand unterwegs. Leute – zumindest ein paar – saßen auf den Stufen des Gebäudes Hammarskjöld Plaza Nr. 2, und einige beobachteten Trudy und die schwarze Frau (die überwiegend schwarze Frau), ohne jedoch beunruhigt oder auch nur interessiert zu wirken; was zum Teufel war los mit ihnen, waren sie blind?
Na gut, erstens sind nicht sie es, die angegrapscht werden. Und zweitens droht man nicht ihnen damit, sie umzu…
Die Leinentasche von Borders mit ihren Büroschuhen (vernünftige halbhohe Absätze, burgunderrotes Kalbsleder) wurde ihr von der Schulter gerissen. Die Schwarze warf kurz einen Blick hinein und sah dann wieder zu Trudy auf. »Welche Größe sind die?«
Trudys Zunge ließ sich endlich vom Gaumen lösen, aber auch das nutzte nichts; sie blieb prompt wie gelähmt im Mund liegen.
»Schon gut, Susannah sagt, dass Sie wie ‘ne Frau aussehen, die ungefähr Größe neununddreißig hat. Die hier müssten…«
Das Gesicht der Erscheinung schien plötzlich zu schimmern. Sie hob eine Hand – die in einem losen Bogen mit einer ebenso losen Faust am Ende hochkam, als hätte die Frau sie nicht sehr gut unter Kontrolle – und schlug sich mitten zwischen den Augen an die Stirn. Und plötzlich sah ihr Gesicht ganz anders aus. Zu den Sendern, die Trudy im Rahmen ihres Kabelpakets abonniert hatte, gehörte der Comedy Channel; dort hatte sie auf Mimikry spezialisierte Komiker gesehen, die ihr Gesicht auf ähnliche Weise verändern konnten.
Als die Schwarze wieder sprach, klang auch ihre Stimme anders. Jetzt war es die einer gebildeten Frau. Und (das hätte Trudy geschworen) die einer verängstigten Frau.
»Helfen Sie mir«, sagte sie. »Ich heiße Susannah Dean, und ich… ich… du liebe Güte… o Gott…«
Diesmal waren es Schmerzen, die das Gesicht der Frau verzerrten, und sie fasste sich mit beiden Händen an den Bauch. Sie sah nach unten. Als sie dann wieder den Kopf hob, war die erste Frau zurückgekehrt, jene, die damit gedroht hatte, allein wegen eines Paars Schuhe einen Mord zu verüben. Sie wich barfuß einen Schritt zurück und hielt dabei weiter die Leinentasche mit Trudys hübschen halbhohen
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