Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
jugendliche Unerfahrenheit vielleicht nicht mehr so ins Gewicht. Wenn Roland zur falschen Zeit den rechten Fehler machte, würden sie, er und Oy den Dunklen Turm vielleicht nie zu sehen bekommen.
Ihre Überlegungen wurden durch ein gewaltiges Flattern hinter ihr unterbrochen. Kaum verdeckt war daraus ein Menschenlaut zu hören, der als Heulen begann und rasch zu einem Kreischen anstieg. Obwohl die Entfernung diesen Schrei abschwächte, waren das Entsetzen und die Schmerzen, die in ihm lagen, unüberhörbar. Schließlich brach er barmherzigerweise wieder ab.
»Der Lordkanzler des Scharlachroten Königs hat die Lichtung betreten«, sagte Roland.
Susannah sah sich nach dem Schloss um. Sie konnte seine schwärzlich roten Wälle, aber sonst nichts sehen. Sie war froh, dass sie nicht mehr sehen konnte.
Mordred sein hongrig, dachte sie. Ihr Herz raste, und sie glaubte, in ihrem ganzen Leben noch nie so verängstigt gewesen zu sein – nicht als sie während der Geburt neben Mia gelegen hatte, nicht einmal in der Schwärze unter Schloss Discordia.
Mordred sein hongrig … aber nun kriegt er Fressen.
7
Der alte Mann, der sein Leben als Austin Cornwell begonnen hatte und es als Rando Thoughtful beschließen würde, saß auf der dem Schloss zugekehrten Brückenhälfte. Die Krähen warteten über ihm, vielleicht weil sie spürten, dass die Aufregungen dieses Tages noch nicht vorbei waren. Thoughtful hatte es warm, was er seinem Kolani und der Tatsache verdankte, dass er sich einen Schluck Brandy gegönnt hatte, bevor er hinausgegangen war, um mit Roland und dessen schwarzer Lady zu sprechen. Nun … vielleicht stimmte das nicht ganz. Vielleicht waren es Brass und Compson (auch als Femalo und Fumalo bekannt) gewesen, die sich beide einen Schluck von des Königs bestem Brandy gegönnt hatten, bevor der ehemalige Lordkanzler von Los’ das letzte Drittel der Flasche geleert hatte.
Was immer der Grund dafür sein mochte, der Alte schlief jedenfalls ein und wachte auch nicht auf, als Mordred Rotferse kam. Er hockte mit auf die Brust gesunkenem Kinn da, während ihm der Sabber zwischen den geschürzten Lippen herauströpfelte, und sah wie ein Baby aus, das in seinem Hochstuhl eingeschlafen war. Auf den Zinnen und Laufgängen waren inzwischen mehr Vögel versammelt als je zuvor. Beim Annähern des jungen Prinzen hätten sie eigentlich auffliegen müssen, aber er sah einfach zu ihnen auf und machte eine Handbewegung in der Luft: Die geöffnete Rechte fuhr rasch am Gesicht vorbei und stach dann zur Faust geballt nach unten. Wartet, hieß das.
Mordred machte auf der Stadtseite der Brücke Halt und sog prüfend den Geruch des verwesenden Fleischs ein. Dieser Duft war verlockend genug gewesen, um ihn einen Umweg machen zu lassen, obwohl er wusste, dass Roland und Susannah weiter dem Pfad des Balkens folgten. Sie und ihr zahmer Bumbler sollten ihren Weg ruhig fortsetzen, sagte sich der Junge. Irgendwann später würde die Wachsamkeit seines Weißen Daddys einmal nachlassen, selbst wenn es nur für einen Augenblick war, und dann würde Mordred ihn sich schnappen.
Und zwar zum Abendessen, wie er hoffte, aber zum Frühstück oder Mittagessen wäre auch nicht schlecht.
Als er diesen Burschen zum letzten Mal gesehen hatte, war er noch
(kleiner Spatz mach’s mir nicht schwer bring dein kleines Körbchen her)
ein Kleinkind gewesen. Das Wesen, das jetzt vor dem Tor des Schlosses des Roten Königs stand, war zu einem Jungen herangewachsen, der ungefähr neun Jahre alt zu sein schien. Kein gut aussehender Junge; nicht die Art Junge, die irgendjemand (außer seiner verrückten Mutter) hübsch genannt hätte. Das hatte allerdings momentan weniger mit seiner vertrackten Erbmasse als mit bloßem Ausgehungertsein zu tun. Das Gesicht unter dem trockenen schwarzen Haarbüschel war abgezehrt und viel zu schmal. Das Fleisch unter Rolands Kanoniersaugen war verfärbt, schwammig purpurrot. Die Gesichtshaut war von Pickeln und offenen Geschwüren wie von einem Schuss mit Vogelschrot durchlöchert. Wie der Pickel neben Susannahs Unterlippe hätten sie eine Folge seiner Wanderung durch vergiftete Landstriche sein können, aber bestimmt hatte auch Mordreds Ernährung etwas damit zu tun. Beim Aufbruch vom Kontrollpunkt jenseits des Tunnels hätte er sich mit Konserven versehen können – Roland und Susannah hatten mehr als genug zurückgelassen –, aber daran hatte er nicht gedacht. Er war noch dabei, wie Roland wusste, die zum Überleben
Weitere Kostenlose Bücher