Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
geschehen ist? Für uns bedeutet das jedenfalls das Ende der Welt. Aber für Sie ist es was anderes, Sie stehen abseits und können die Sache mit anderen Augen betrachten. Für uns ist es ganz einfach … wir können es nicht verstehen. Womöglich werden wir es nie verstehen. Vermutlich werden wir in tausend Jahren wieder in Höhlen leben und mit Faustkeilen unserer Arbeit nachgehen.«
    Der Pole kniff die Augen zusammen und nickte zustimmend.
    »Das ist mal ein intelligenter Mensch«, sagte er zu seiner Truppe. »Er weiß, dass er nichts weiß und tut nicht so, als ob er doch etwas wüsste. Das ist Weisheit, Jerzy.«
    Milosz deutete auf einen jungen schwarzhaarigen Mann und redete auf Polnisch weiter. Melton hatte den Eindruck, dass er wiederholte, was er gerade gesagt hatte. Der junge Soldat zuckte mit den Schultern und nickte knapp.

    »Und was ist mit Ihnen, Feldwebel? Haben Sie eine Theorie?«
    Milosz lächelte traurig.
    »Es ist genau so, wie Sie gesagt haben. Die Menschen irren durchs Dunkel und versuchen etwas zu ertasten, um zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Ich stelle diese Frage immer, um herauszufinden, mit wem ich es zu tun habe. Um zu beurteilen, ob derjenige es schaffen wird oder nicht.«
    »Sie meinen also, dass Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben oder an Übernatürliches oder an einen strafenden Gott, besser durchkommen?«
    »Nein. Die Leute werden irgendwie überleben. Einige mit Glück. Wenn Sie nichts mehr zu essen haben, keinen warmen Unterschlupf im kalten Winter, dann ist es egal, ob Sie kleine grüne Männchen oder Mohammed oder sonst was für Ihren erbärmlichen Zustand verantwortlich machen. Sie werden trotzdem verhungern oder erfrieren. Aber wenn Sie genug zu essen haben, gerade genug, und wenn Sie ein Dach über dem Kopf haben, dann machen Sie sich vielleicht Gedanken darüber, ob Ihr Schicksal etwas mit übernatürlichen Kräften zu tun hat, oder ob es eine rationale Erklärung dafür gibt.«
    Auf Meltons wettergegerbtem Gesicht erschien ein wissendes Lächeln.
    »Sie sind wohl ein Materialist? Einer von der dialektischen Schule? Ich dachte, in Polen wäre längst Schluss damit.«
    »Ja, tatsächlich bin ich philosophisch betrachtet Materialist, genauso wie mein Vater, der Mathematiker gewesen ist. Sie sind wirklich kein simpler GI, Melton.«
    »Es wäre ja auch völlig idiotisch zu glauben, dass jemand ab dem Zeitpunkt, wo er seine Uniform anzieht, die Fähigkeit zu denken verliert. Ihnen ist das ja auch nicht passiert.«

    »Großartig.« Milosz strahlte. »Es ist gut, wenn man so sprechen kann. Vieles am Soldatenleben ist hässlich und grausam. Aber das Soldatentum hat noch weitere Aspekte. Wir kämpfen, damit unsere Kinder es nicht tun müssen. Wir nehmen die Waffen in die Hand, sie die Bücher.«
    Melton machte eine hilflose Geste. »Ich habe nie Kinder gehabt. Heute kann ich wohl sagen, dass ich darüber sehr froh bin.« Er schaute nicht zu der Soldatin hin. Sie sprach immer noch von ihrem Kind in North Dakota. Jemand trat zu dem Mann ihr gegenüber auf dem Feldbett und fühlte seinen Puls. Er zog die Decke über das Gesicht des Mannes und machte sich eine Notiz auf seinem Klemmbrett. Die Soldatin bemerkte davon nichts. »Aber wenn ich Kinder hätte«, fuhr Melton fort, »und sie nicht verschwunden wären, dann weiß ich nicht, ob sie wirklich in eine bessere Zukunft gesehen hätten.«
    »Jetzt nicht mehr«, stimmte der Pole zu.
    Drei Lastwagen fuhren vor dem Hangar vor. Weitere Verletzte wurden ausgeladen. Sanitäter und Krankenschwestern eilten dazu, um zu helfen. Die anderen Menschen im Hangar nahmen kaum Notiz davon. Manche saßen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Aus zahlreichen Radios dröhnte Musik, ein kakophones Gemisch aus Countryklängen, Speedmetal-Gedröhne und Rap-Gesang. Viele Männer hatten sich aufs Kartenspiel verlegt, und hier und da ertönte das Piepen von Gameboys.
    »Und wie ist das bei Ihnen, Feldwebel? Fahren Sie heim zu Ihrer Familie?«
    Milosz nickte, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck machte klar, dass er sich davon nicht besonders viel Gutes erhoffte. Einige andere Polen blickten ähnlich finster drein.
    »Nach Hause. Das hoffen wir jedenfalls.«
    Er machte eine Geste, die Hilflosigkeit ausdrücken sollte.
    »Falls man uns nicht vergessen hat. Oder verdrängt. Oder loswerden will.«

    Er zuckte mit den Schultern.
    »Aber unsere Familien werden wir nicht sehen, auch wenn wir es bis nach Hause schaffen. Es gibt viel zu

Weitere Kostenlose Bücher