Der Effekt - Roman
ragte die ungeheuerliche, glänzende Energiewand in den Himmel.
»Du willst das Ding stehlen, stimmt’s?«, fragte Jules mit resignierter Stimme.
»Nein, ich werde es bergen«, grinste Pete. Es war sein erstes Lächeln seit vielen Stunden. »Ich werde das hübsche Ding vor den ruchlosen Verbrechern retten, die in diesen Breiten unterwegs sind. Wenn der Besitzer aus dieser Energiezone zurückkommt, wird er mir bestimmt dankbar dafür sein und mich belohnen.«
Jules schaute ihn schief an. Fifi nickte unbestimmt. Sie konnte ihren Blick nicht vom Horizont losreißen.
»Ich weiß nicht, Pete. Wir kommen dem Ding da immer näher. Vor ein paar Stunden hast du gesagt, wie weit wir uns rantrauen können, und inzwischen sind wir schon viel dichter. Mir kommt es so vor, als würde es sich uns entgegenblähen.«
»Mr. Lee, können wir längsseits gehen?«, fragte Pete und ignorierte Fifis nicht von der Hand zu weisende Beobachtung. Sich bisweilen taub stellen zu können war eine nützliche Eigenschaft, die er von seiner Mutter geerbt hatte.
Der alte chinesische Pirat grinste und legte das Ruder um, damit sie den Kurs der langsam dahinfahrenden führerlosen Jacht schneiden konnten. Als sie näher kamen, konnte Pete den Namen am Heck erkennen: The Aussie Rules.
Er pfiff überrascht vor sich hin, einerseits, weil die Jacht ihn unerwartet mit seiner Heimat verband, aber auch, weil er glaubte, sie von irgendwoher zu kennen. Seltsamerweise wollte ihm nicht einfallen, wo er sie gesehen hatte. Es war nicht die Zeit, länger darüber nachzudenken, denn er musste die Vorbereitungen für das Entern treffen. Ehrlich gesagt ging es ihm nicht wesentlich anders als Fifi.
Auch er hatte einen Heidenrespekt vor der gigantischen Energiewand im Norden, aber gleichzeitig sagte ihm ein Gefühl, dass diese Jacht hier sich als ungemein nützlich erweisen könnte. Vielleicht war eine solche Superjacht ja viel zu auffällig, um mit ihr in einer Welt am Abgrund herumzusegeln, aber sie war unter Garantie von oben bis unten vollgepackt mit den allerschönsten und nützlichsten Dingen. Dinge, die sie gebrauchen oder teuer verkaufen konnten. Nach seinem Gefühl würde der Begriff Wohlstand schon sehr bald eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Trotzdem gefiel auch ihm diese verdammte Wand nicht, die sich so provokant über den Horizont ausbreitete.
»Sachte, Mr. Lee, ganz sachte jetzt.«
Der Chinese brauchte fünf Minuten, um die Diamantina längsseits der Jacht zu bringen. Obwohl die Sonne ziemlich hoch am Himmel stand, befanden sie sich nun im Schatten des viel größeren Schiffs. Lee passte ihre Geschwindigkeit dem der Beute an, fuhr dann langsam die Motoren herunter und ließ sich zurückfallen bis zur Andockstelle am Heck. Pete erkannte sofort, dass die Jacht gut gepflegt war. Jeder, der sich so ein Luxusgefährt leisten konnte, war auch in der Lage, dafür zu sorgen, dass es instand gehalten wurde. Der Rumpf der Jacht war frei von Ablagerungen. Die Bullaugen waren blitzblank und glasklar, womöglich hatte man sie erst am Morgen geputzt. Als sie auf gleicher Höhe mit der Andockstelle waren, erhöhte Lee die Geschwindigkeit und hielt genau Position, nur einen Fußbreit von der Jacht entfernt. Pete nickte und zwinkerte ihm zu, bevor er einen Schritt hinüber machte. Der kleine Chinese stand am Steuer, als wäre er an dieser Stelle mit der Diamantina verwachsen. Er bewegte sich kaum, aber wenn er es tat, dann in perfekter Harmonie mit den Bewegungen der Jacht, die sich wesentlich träger hob und senkte als das kleinere Gefährt.
»Alles klar?«, fragte Pete.
Fifi und Jules, beide in ihrer Kampfmontur, nickten zustimmend.
»Okay«, sagte er. »Dann knöpfen wir uns die Kleine mal vor.«
Lady Julianne Balwyn war nicht auf den ersten Blick eine jener märchenhaften Kreaturen, wie man sie in den vornehmsten Familien Englands findet. Zwar zeugten ihre Körperhaltung, ihre sanfte Schönheit und ihre geschliffene Aussprache von der Herkunft aus einer jahrhundertealten privilegierten Familie, aber etwas stimmte mit ihr nicht, in dieser Hinsicht ähnelte sie ihrem Vater. Lord Balwyn, ein verschwendungssüchtiger Lebemann, hatte ihr mehr als einmal versichert, dass Sir Francis Drake mit ihnen verwandt gewesen sei und sein Erbe immer wieder aufblitzte, wenn gelegentlich ein Freibeuter oder sonstiger Lump in ihrem Stammbaum auftauchte. Ob das nun stimmte oder nicht - und Jules war schlau genug, ihrem Vater zunächst einmal überhaupt nichts zu glauben
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