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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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erschreckt wurde. Caitlin bereute sofort, dass sie sich hatte gehenlassen. Es war dumm und unprofessionell, etwas, das ihr normalerweise überhaupt nicht passierte, schon gar nicht mitten im Einsatz und wenn sie dem Feind gegenüberstand. Sie sah ein paar Jungs im Teenageralter, die auf ihren Fahrrädern herumlungerten, aber sie machten keinen aggressiven Eindruck. Sie schienen sich nur über ihren Wutausbruch zu amüsieren und hatten womöglich ihren amerikanischen Akzent bemerkt.
    »Tut mir leid«, lenkte sie ein. »Es war ein verdammt anstrengender Tag, und so wie es aussieht, wird es auch nicht besser.«
    »Es tut mir auch leid«, sagte Monique leise, aber mit erstaunlich fester Stimme. »Du hast alles verloren, stimmt’s? Hattest du Familie?«
    Caitlin nickte, und eine dunkle Woge von Trauer und Verzweiflung erfasste sie, als sie an ihre Eltern und Geschwister dachte, die nun für immer verschwunden waren.
    »Was willst du nun tun … Caitlin?« Sie war noch immer unsicher bei der Aussprache dieses Namens. »Du kannst nicht mehr nach Hause, und du kannst nicht hierbleiben. Du bist eine Spionin, stimmt’s? Eine Killerin? Du weißt wahrscheinlich, was du tun musst, um zu verschwinden.«
    Sie gingen weiter durch den Park auf das Zentrum von Paris zu, aber nicht in Richtung des Krankenhauses, in dem die blutige Schießerei stattgefunden hatte.
    Caitlin lächelte wehmütig. »Ich bin besser darin, andere verschwinden zu lassen, als mich selbst. Ich habe … nein, lassen wir das. Davon solltest du besser nichts wissen. Aber es hat sich so vieles verändert und … na ja, so wie es aussieht, bin ich jetzt ganz auf mich allein gestellt.«

    Sie gingen an einem Obdachlosen vorbei, der sich auf einer Parkbank einrichtete, in dem er Zeitungen ausbreitete und für ein Kopfkissen zusammenknüllte. Er schenkte ihnen ein zahnloses Lächeln und lüpfte seine verfilzte Mütze. Monique hielt an und drückte ihm ein paar zerknüllte Geldscheine in die Hand.
    »Merci, mademoiselle, merci.«
    »Weißt du«, sagte Caitlin eine Minute später, als sie den Rand des Parks erreicht hatten, »der Mann da eben weiß zwar nichts davon, aber er hat etwas, das ihn vor vielen anderen auszeichnet.«
    »Was denn?«, fragte Monique.
    »Er ist ein Überlebender.«
     
    »Ich muss mich ausruhen und etwas essen«, sagte Caitlin eine Stunde später, als sie das hässliche, moderne Einkaufszentrum am Place d’Italie hinter sich gelassen hatten. Hier trafen sieben Straßen zusammen, einige von ihnen Hauptverkehrsadern wie die Rue Bobillot, andere waren kleinere baumbestandene Alleen mit kleineren Geschäften und Cafés, die weniger von Touristen als von den Bewohnern des Viertels aufgesucht wurden. Monique führte sie in eins davon und suchte einen Tisch in der Nähe des Eingangs aus, den Caitlin aber ablehnte, weil sie lieber weiter hinten mit dem Rücken zur Wand saß, um einen guten Blick auf den Eingang und die Straße zu haben.
    »Gibt es hier eine Toilette?«, fragte sie. »Kann man von hier aus in die Küche kommen?«
    »Ich weiß nicht.« Monique zuckte mit den Schultern. »Manchmal komme ich hierher, aber ich bin nie zur Toilette gegangen. Warum? Musst du mal?«
    »Nein«, sagte Caitlin. »Aber wir brauchen einen zweiten Ausgang. Tu mir doch bitte den Gefallen und frag mal nach.«

    Monique schaute sie genervt an, was Caitlin als gutes Zeichen ansah. Sie überwand ihren Schock und fand ihre Selbstsicherheit wieder. Trotzdem tat sie, was von ihr verlangt wurde. Während sie mit dem Wirt sprach, setzte Caitlin sich und lehnte sich gegen die Backsteinwand. An den Wänden hingen verblichene Plakate mit Strandszenen aus Neukaledonien, und sie sahen sehr einladend aus. Sie merkte, wie eine übermächtige Müdigkeit sie ergriff. Sie musste sich zwingen, die Augen offen zu halten. Sie winkte einen Kellner heran und bestellte einen doppelten Espresso.
    »Ich werde es diesem Tumor schon zeigen«, murmelte sie vor sich hin.
    Nach der Gewaltorgie im Krankenhaus und der mehr als einstündigen Flucht war sie froh, endlich im Warmen zu sitzen und auszuruhen, an einem Ort, an dem ihr niemand nach dem Leben trachtete. Es waren noch neun andere Gäste anwesend, die allein oder zu zweit an den Tischen saßen und, soweit sie es hören konnte, alle über »la Disparition« diskutierten. Das Verschwinden. Sie versuchte die Gespräche so gut es ging zu ignorieren. Im Café roch es nach frisch gebackenem Brot, geröstetem Knoblauch und gebratenem Lammfleisch. Der

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