Der Eid der Heilerin
Niemand außer der Königin konnte irgendeinen Makel auf dem glänzenden Stoff entdecken, doch keiner wagte, ihr zu widersprechen.
Anne war sehr schweigsam, während Jehanne und die anderen Frauen versuchten, die Königin zu beschwichtigen. In den wenigen Stunden, die ihr seit dem Treffen mit dem König geblieben waren, hatte sie nicht mehr geschlafen, und sie war noch vor Sonnenaufgang aufgestanden, um die Kleider der Königin rechtzeitig vor dem Ankleideritual auszubürsten. Im Bett hatte sie sich mit Bauchkrämpfen zusammengekrümmt und wieder und wieder die Szene im Zimmer des Königs vor ihrem inneren Auge abgespult. Sie glühte vor Fieber und zitterte vor Kälte, während sich ihr Magen vor Beklemmung beim Gedanken daran zusammenzog, was geschehen würde, wenn sie ihn wiedersähe. Sie schämte sich so sehr, dass sie fürchtete, ihm nie mehr unter die Augen treten zu können. Und sie hatte noch immer Angst um ihn, denn sie hatte ihm nicht sagen können, was sie in der Nacht zuvor in der Kapelle gehört und gesehen hatte. Noch immer lauerte die Gefahr, und er wusste von nichts. Das dachte sie wenigstens.
»Anne, hast du denn nichts vorzuschlagen?« Die Stimme der Königin klang frostig. Elizabeth war in letzter Zeit nicht besonders zufrieden mit Anne. Früher hatte das Mädchen ihr so fröhlich aufgewartet und ihr herrliche Cremes und andere Schönheitsmittel zubereitet, aber in den vergangenen Tagen war sie zunehmend schweigsamer und ausweichender geworden.
Die scharfen Worte der Königin rissen Anne aus ihren düsteren Gedanken, und sie bemerkte den erschrockenen Ausdruck auf Jehannes Gesicht. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, machte sie einen tiefen Knicks, als sie eine wahrhaft göttliche Eingebung hatte. »Das weiße Brokatkleid mit dem Hermelinpelz, Euer Majestät. Und dazu das Smaragddiadem mit der Perle und ein silbernes Haarnetz. Ihr werdet aussehen wie eine Schneekönigin. Und dann reitet Ihr auf Eurem weißen Pferd mit dem silbernen Zaumzeug - der Araber, den der König Euch zum Namenstag geschenkt hat.«
Anne entwarf das Bild einer fast mystischen, märchenhaften Gestalt, dem die Königin gegen ihren Willen ihre Begeisterung zollen musste. Das Mädchen hatte Recht, denn das weiße Kleid hatte auch den Vorteil, dass sie es erst einmal, vor Monaten, getragen hatte. Daran würde sich niemand mehr erinnern, vor allem wenn sie es mit einem ihrer neuen Umhänge kombinierte - vielleicht mit dem aus weißem, venezianischem Samt.
Murrend stimmte Elizabeth zu, nahm sich aber vor, Annes seltsames Verhalten der jüngsten Zeit nicht zu vergessen. So etwas durfte nicht geduldet werden, doch nun war keine Zeit dafür. Sie würde mit dem König darüber sprechen, wenn sie einen Augenblick mit ihm allein war.
Schließlich waren die Königin und sämtliche Hofdamen und Dienerinnen zu einem Reiterzug versammelt, der von ausgewählten Herren begleitet wurde, darunter auch Doktor Moss. Sie ritten zu einer speziell für diesen Anlass errichteten Winterlaube im Wald, wo sie auf den König und seine Edelmänner treffen sollten. Alle waren wieder fröhlicher Dinge, auch Elizabeth.
Jehanne und Anne fuhren hinter der Gesellschaft auf einem der Ochsenkarren mit dem Proviant für das Picknick. Es war ein strahlend kalter Wintertag, der Himmel blau und wolkenlos. Allerdings sagte der Kutscher ihres Gefährts für den Abend Schneefall voraus. Er war ein alter Soldat, der von den vergangenen Schlachten des Hauses York schwer gezeichnet war. »Und wenn ich Recht hab, wird's noch viel schlimmer kommen. Zu Weihnachten werden wir eingeschneit sein, denkt an meine Worte ...«
»Aber bis dahin sind es noch zwei Tage, Mann. Woher willst du wissen, was der Herr uns zu seinem Geburtstag beschert?«, spottete Jehanne.
»Nun, meine Dame, ich denke an die Schlachten, die ich mit dem König gefochten habe, nachdem sein Vater, der gute Herzog von York, seine Seele ruhe in Frieden, in Wakefield einen so gemeinen Tod gefunden hat. Damals in Towton, als wir die Wölfin von Anjou verjagt haben, war es auch so bitterkalt. Am Tag davor sonnig und kalt wie heute und dann, drei mörderische Tage lang, ein Schneesturm. Der Schnee war rot gefärbt vom Blut, aber wir haben weitergekämpft.«
Anne zitterte und zog ihren Mantel fester um sich, während der Mann weiterschwafelte. Der rote Stoff breitete sich gleich einer Blutlache zu ihren Füßen aus, schlug und kräuselte sich wie eine Kriegsflagge. Plötzlich hörte sie Schreie, viele Stimmen,
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