Der Eid der Heilerin
Vorgänge um ihn herum entglitt. Gewöhnlich machte er den ersten Schritt, und die anderen folgten ihm. Doch nun zögerte er, und das genügte der Königin als Zeichen.
»William, ruft die Diener! Der König wird mich zum Gebet in die Abtei begleiten.«
Und das schien er auch zu tun, denn die Königin rauschte mit einigen Höflingen im Schlepptau mit ihrem Gemahl aus den Privatgemächern, und bald darauf schritt er an ihrer Seite aus dem Palast und durch den Garten der Abtei. Er hätte umkehren, wichtige Geschäfte vorschieben können, aber die Abtei und die Gemächer des Abts zogen ihn geradezu magisch an. In Wahrheit brannte er darauf, Anne wiederzusehen, und wenn die Königin der Weg zu ihr war ... Seltsam schicksalsergeben zuckte er die Achseln. Elizabeth hatte Schicksal gespielt. Wusste sie etwas? Sie spielte niemals, außer sie war sich sicher zu gewinnen. Doch aus Erfahrung wusste er, dass bei Glücksspielen das Glück stets auf seiner Seite stand.
Bruder Walter zitterte vor Aufregung. Die Königin und der König waren in der Marienkapelle und beteten gemeinsam vor dem Reliquienschrein mit dem Gürtel der heiligen Jungfrau - und in Kürze würde sein Herr, John Millington, das Königspaar in der Jerusalemkammer empfangen. Das warf ein Problem für Walter und seinen Herrn auf, denn wegen des Königs stand Anne unter dem Schutz der Kirche. Die Frage war also, wie es diese unangenehme und unerwartete Folge von Ereignissen zu behandeln galt.
Anne hatte einen Lösungsvorschlag. Sie würde sich während des Besuchs in ihre Schlafkammer zurückziehen - eine spartanische, kleine Mönchszelle im Dachgeschoss des Wohnflügels. John Millington sollte durch ihre Anwesenheit nicht in Schwierigkeiten geraten. Und Doktor Moss wusste selbst am besten, dass er sich rar machen musste.
Der strahlende Wintermorgen war bereits weit fortgeschritten, als die Königin und ihr Gemahl mit ihrem Gefolge endlich in der Jerusalemkammer eintrafen. Nun saßen sie in dem prachtvollen Empfangszimmer des Abts, schlürften heißen, würzigen Burgunder und knabberten Süßigkeiten. Das verhaltene Schwatzen der höfischen Gesellschaft erfüllte den Raum mit einem angenehmen Summen. Elizabeth war bezaubernder denn je - würdevoll, ihrem Gemahl jedoch zärtlich zugeneigt und charmant gegenüber ihrem Gastgeber. Der König, der am Kamin neben dem Stuhl seiner Frau stand, wurde unterdessen zusehends schweigsamer.
Er spürte Annes Gegenwart in diesem Raum. Auf einem Klapptischchen lag eine Stickerei, die von ihr stammen musste, und es gelang ihm nicht, die Augen von der Tür abwenden, die zu den Privatgemächern des Abts führte.
»Verehrter Abt, wir haben gehört, dass Ihr einem Gast Zuflucht gewährt. Eine schöne, geheimnisvolle Lady. Wer sie wohl ist? Kennen wir sie? Vielleicht möchte sie uns ja Gesellschaft leisten und einen Becher dieses hervorragenden Weins mit uns trinken.« Die Königin hatte einen leichten, koketten Ton angeschlagen und warf ein strahlendes Lächeln in die Runde.
Dem Abt schien höchst unbehaglich zumute zu sein. Der Schutz der Kirche war ein heiliges Recht, das jedem Christenmenschen zustand. Die Art und Weise, wie die Königin darüber sprach - als wäre die Beherbergung einer Büßerin in seiner Kirche gleichzusetzen mit der Unterbringung eines reizendes Gastes zog dieses heilige Recht ins Lächerliche.
Außerdem war Anne hier, weil sie vor dem König geflohen war. Edward bemerkte das Unbehagen des Abts und rettete ihn aus seiner Verlegenheit.
»Es ist allein Doktor Millingtons Angelegenheit, meine Liebe, wem er Zuflucht gewährt. Und nun muss ich leider zu meinen Pflichten zurück. Ich lasse Euch das Gefolge hier, falls Ihr noch länger beten möchtet. Die Herren werden Euch zurück zum Palast geleiten, wenn Ihr fertig seid.«
Allen Anwesenden, auch der Königin, war klar, dass der König am Ende seiner Geduld war. Ohne Elizabeth eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Edward, gefolgt von William Hastings, das Zimmer. Angesichts des abrupten, unhöflichen Aufbruchs ihres Mannes biss sich die Königin enttäuscht auf die Lippen. Wie gewöhnlich hatte er einen taktischen Rückzieher gemacht - was in der Schlacht ein geschicktes Täuschungsmanöver sein mochte, auf dem Schlachtfeld der Ehe jedoch einen schweren Schlag darstellte. Sie würde ihn später deswegen zur Rede stellen.
Der König kehrte jedoch nicht zu seinen Gemächern im Palast zurück, sondern überquerte hastig den privaten Innenhof des
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