Der Eid der Heilerin
Familie. Dahinter befanden sich mehrere Reihen einfacher Holzbänke für die Bediensteten: die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.
Mathew war es ein großes Anliegen gewesen, seine Familienkapelle der heiligen Mutter Gottes zu widmen, und er hatte keine Kosten gescheut, ihr zu Ehren diesen schönen, farbenprächtigen Raum zu schaffen. Besonders stolz war er auf die modischen, teuren Fresken in flämischem Stil, die die Wand hinter dem Altar zierten. Sein Lieblingsgemälde zeigte die Vertreibung aus dem Garten Eden mit der bußfertigen Eva, die vom Satan in Gestalt einer verschlagenen Schlange verfolgt wurde. Bei dem anderen Fresko war er sich nicht sicher, ob er es wirklich mochte - es war so lebensecht gemalt, dass ihm unbehaglich wurde, wann immer er es betrachtete. Es stellte den leichten Weg der Erlösten und den schweren Weg der Verdammten am Tag des Jüngsten Gerichts dar. Mit unerbittlicher Miene warf der Herr die schreienden, nackten Gestalten - Männer, Frauen und Kinder - in die Arme der wartenden Teufel, wogegen die heilige Mutter, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Margaret aufwies, mitleidig versuchte, sich bei ihrem Sohn für die Verdammten zu verwenden.
Wie in Flandern und Italien üblich, hatte Mathew auch sich selbst und seine Familie in das Gemälde einarbeiten lassen. Es erfüllte ihn jedes Mal mit einem Anflug schuldbewusster Freude, wenn er sein Abbild und das seiner drei Frauen sowie das Gesicht von Piers und seiner im Norden verheirateten Tochter Alicia betrachtete. Sie alle knieten zu Füßen der Mutter Gottes und hatten die Augen auf Christus den Allmächtigen gerichtet, der in all seiner Herrlichkeit über ihnen thronte. Er hatte sich gefragt, ob es Gotteslästerung war, sich und seine Familie so nah vor Christus zu setzen, doch Vater Bartolph, sein Beichtvater und Familienkaplan, hatte ihn beruhigt.
Die Gemälde sollten darstellen, wie die Bußfertigen durch Vermittlung der heiligen Mutter Gottes in den Himmel kamen. Bestimmt würde die heilige Mutter verstehen, dass sein demütiger Wunsch, sich kniend vor ihrem Sohn zu sehen, allein Ausdruck seines dankbaren, ihrer Anbetung gewidmeten Herzens war. Zudem gab er als Hausherr ein erstrebenswertes Vorbild für die Dienstboten ab, wenn er und seine Angehörigen der heiligen Familie so nahe waren. Vater Bartolph meinte, die Gunst der heiligen Mutter gegenüber diesem Raum und seinem Besitzer zeige sich auch in den Farben, die trotz des Weihrauchs und des Qualms der Kerzen und Ollampen frisch geblieben waren.
Piers und Aveline knieten vor dem Altar, dazwischen Lady Margaret, die auf das Eintreffen ihres Gatten wartete und die Perlen ihres kostbaren Rosenkranzes aus Onyx abbetete.
Aveline zitterte vor Kälte und Anspannung und flehte stumm zur Mutter Gottes, sie möge ihre Gebete erhören. Sie würde verstehen, wie es war, sich allein in einer herzlosen Welt behaupten zu müssen. Das Leben war so ungerecht. Warum konnte sie keine Lady mit feinen Kleidern und einem zufriedenen Ehemann sein? Stattdessen war sie das uneheliche Kind eines kleinen Landedelmanns aus dem Westen. Ihr Vater hatte alles in seiner Macht Stehende getan und sie als Kind in Lady Margarets Elternhaus untergebracht. Sie war sehr anstellig gewesen und hatte sich über alle Maßen gefreut, als Margaret sie mit nach London nahm, als sie Master Mathew heiratete. Um ihrer Herrin zu gefallen, hatte sie sich mit den Jahren auch vornehmere Umgangsformen angeeignet. Und sie hatte bereits früh bemerkt, dass die Männer sie begehrten, aber nicht um ihrer guten Manieren, sondern um ihres Körpers willen. Mit Schläue und manchmal auch unter Einsatz körperlicher Kraft hatte sie sich die Männer vom Leib gehalten - was nicht immer leicht gewesen war -, bis Piers sie eines Tages mit Gewalt in sein Bett genommen hatte. Die ersten Male hatte sie sich verzweifelt gewehrt und
Bisswunden an den Brüsten und zerrissene Strümpfe davongetragen. Doch irgendwann änderte sich die Art ihres Kampfes, und wenn sie sich ihm heute unterwarf, hatte sie bei aller Pein und Angst auch lustvolle Empfindungen. In ihrem Herzen jedoch herrschten tiefe Verwirrung und Scham - aber sie musste ihr Schamgefühl unterdrücken, wollte sie überleben. Zudem ertrug sie die Vorstellung nicht, London verlassen zu müssen. Sie würde nicht zulassen, dass sie aufs Land zurückgeschickt wurde, um dieses Kind in Schande zu gebären. Dann würde sie als Schlampe gebrandmarkt werden und könnte sich in
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