Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
erhalten . Der Vater hat die Stelle angestrichen, im Buch leuchtet sie neongelb.
Ein sanftes Gleiten trennte mich von mir selber. Da war ich, es war Sommer, ich musste warten, etwas löste sich von mir ab, oder es tauchte in mir auf, dort, wo nichts war, wo es nichts gab als das »eigene« Eintauchen eines »Ich selbst«, das sich nie als dieser Körper ausgewiesen hatte, schon gar nicht als dieses Herz, und das sich plötzlich betrachtete. Der Autor, ein bekannter Philosoph, überlebte, das fremde Organ wurde Teil von ihm, zwar erkrankte er wenig später an Krebs, eine häufige Nebenwirkung der Medikamenteneinnahme nach der Transplantation, doch auch diesen besiegte er; heute ist er siebzig Jahre alt. Immer dann zum Beispiel, wenn ich in der nachfolgenden Zeit beim Treppensteigen eine sich absetzende Extrasystole wie das Fallen eines Kieselsteins in die Tiefe eines Brunnens empfand. Wie wird man für sich selber etwas, das man sich vorstellt? Wie wird man für sich selber eine Zusammensetzung von Funktionen? Und wohin verschwindet die mächtige und stumme Selbstverständlichkeit, die einst alles zusammenhielt, ohne Aufhebens zu machen?
Warum hat der Vater das gelesen? Warum konnte es nicht einfach ein Buch sein, in dem das Leben mit einem transplantierten Organ beschrieben wurde, warum musste es ein philosophischer Essay sein? War das seine Art, sich Mut zu machen? Seine Strategie, sich Gefühlen zu entziehen?
Das Fallen eines Kieselsteins in die Tiefe eines Brunnens.
Auch in Göttingen feuchte Hitze über der Stadt. Ein Dutzend Fahrgäste hetzt, die Rollkoffer wie renitente Haustiere hinter sich her schleifend, die Rampe zur Bahnhofsunterführung hinunter – jeder seine eigene Schweiß- oder Parfümspur ziehend, den Blick starr nach vorn gerichtet. Daniel holt tief Luft, wer weiß, wie lange man das noch kann, und tappt dann hinter den anderen Reisenden her. Die Schwerkraft zieht ihn nach unten, ohne dass er etwas dafür tun müsste, lässt ihn einsickern in die Stadt.
In der Unterführung, die nach Osten auf die Haupthalle und den Bahnhofsvorplatz, ein Drahteselmeer, nach Westenauf den Autobahnzubringer zuläuft, stehen ambulante, selbständige, eifrige Brezelverkäufer und bieten frische, frisch aufgebackene, mit Aromastoffen verfeinerte Backware an. Schon bald, denkt Daniel, wird er neben ihnen stehen, schon bald wird er keine andere Wahl mehr haben, als den ersten, letzten Job zu akzeptieren . Wenn er in seinen Fächern nicht besteht, wenn das Bafög gestrichen wird, wenn Conny und Gerd nicht für ihn aufkommen können werden. Obwohl Fil ihm die Wohnung überlassen hat, wird er dann wieder einmal den ersten, letzten Job machen müssen, um über die Runden zu kommen.
Die Mutter wartet nicht in der Unterführung, nicht am, bahndeutsch, Info-Point , und so durchquert Daniel die Halle allein, die in Göttingen kleiner, aber nicht minder gesichtslos ist als in anderen Städten: Bäckerei, Coffee-Shop, Zeitschriftenhandel mit tausend Special-Interest-Magazinen. Er hört das Prasseln der Anzeigetafel im Rücken, spürt das Geräusch oder den Luftzug oder den Luftzug eines Geräuschs, tritt ins Freie und geht die zwei Kilometer zur Wohnung der Mutter zu Fuß. Der Wall, die alte Stadtumgrenzung, grün; die Sträucher am Wegrand strahlen im Licht. Hinter dem Jugendzentrum, dem Juzi, so sahen die Häuser aus, in denen der Vater sich wohl fühlte, wenigstens in der Erinnerung Daniels sehen sie so aus, zwei Obdachlose, die, ihre Plastiktüten unter den Arm geklemmt, Richtung Bismarckmühle eilen: der verzweifelte Versuch, Effizienz unter Beweis zu stellen, keine Abstriche beim Zeitmanagement zu machen. Daniel hetzt in Gegenrichtung vorüber.
Eine Viertelstunde später kommt er bei der Mutter an, drückt er das Haustor auf, aus dem Treppenhaus stürzt ihm derGeruch von Bohnerwachs entgegen. Ein absurder Geruch. Wo außer hier wird noch die Treppe gebohnert?
Daniel steigt in den vierten Stock hinauf, steckt den Schlüssel ins Schloss, er hat ihn behalten dürfen, als er nach Berlin zog, die Wohnungstür klemmt, man muss sie ein Stück anheben, am Griff nach oben ziehen, und sieht dann Conny in der Küche stehen; mit der von einer Kalkschicht überzogenen Kaffeekanne in der Hand. Als sie ihn entdeckt, läuft sie ihm die wenigen Schritte entgegen.
Warum er nicht angerufen habe? Und dann:
Hast du schon gegessen?
Daniel geht durch den Kopf, dass die nächste logische Bemerkung lauten müsste, dass er sehr
Weitere Kostenlose Bücher