Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
mit Fil gedacht habe, und so fragte er stattdessen nur nach der Stimmung in der Kneipe auf den Bierkisten. Berlin sei damals, antwortete die Mutter, grau und ziemlich dunkel gewesen, man habe den Braunkohlen-Smog der DDR geschmeckt, auf der Straße sei kaum Werbung zu sehen gewesen, und auch in dieser Kneipe habe alles etwas fertig ausgesehen: alte Holzpaletten, ausrangierte Gartenstühle, ein kaputtes Waschbecken. Ihr habe das ein bisschen Angst gemacht, berichtete die Mutter, aber der Abend mit Fil sei dennoch sehr schön gewesen, und so hätten sie sich in den Monaten darauf immer wieder gesehen, immer mal wieder, bis sie schließlich schwanger geworden sei mit ihm, mit Daniel, von Fil.
Bis dahin hatte die Mutter die Geschichte erzählt, aber wie die über Monate gehende Affäre weiterging, ob die Eltern verliebt waren oder es nur um Sex ging, gelegentlichen Sex, das wusste er nicht, das hatte sie ihm nie verraten.
Später, es ist Abend geworden, fahren sie mit dem Wagen ins Grüne, ohne Gerd, der nicht mitkommen kann, der mit seinen Arbeitskollegen zum wöchentlichen Stammtisch gefahren ist, der erzählt hat, der Firma gehe es schlecht, man sei auf Kurzarbeit, es sei unklar, ob man bis zum nächsten Jahr durchhalten werde; ohne Gerd, der Angst hat, auf Hartz IV zu landen, mit Mitte Fünfzig unvermittelbar zu sein. Aber Daniel hat nur gedacht: Umso besser, dann bin ich mit der Mutter allein.
Sie stellen das Auto in der Nähe des Wildfreigeheges ab, oberhalb des Stadtparks, streifen durch den Mischwald, der in der tiefstehenden, ausdauernden Juliabenddämmerungssonne nicht zu leuchten aufhört. Trocken bricht das Vorjahreslaub unter den Schuhsohlen, ein sprödes Knacken, Mücken ziehen aggressiv ihre Kreise.
Conny erzählt, wiederholt noch einmal, was Daniel längst weiß, was er in all den Jahren immer wieder gehört hat: dass Conny schon bald, nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, zurück nach Göttingen zog, weil sie in der Stadt, der Kleinstadt, mehr Leute hatte, zu haben glaubte,auf die sie sich verlassen konnte, ihre Eltern ihr dort in der ersten Zeit helfen konnten. Daniel ist nichts an der Geschichte neu, das meiste hat die Mutter ihm in diesen Worten schon einmal erzählt, und dennoch ist er froh über die Wiederholung, die wie eine Vergewisserung ist, eine Bekräftigung seiner Identität.
Im Freigehege liegen Rehe, die Beine unter dem Körper zusammengefaltet, auf einer Lichtung, mahlen mit den Kiefern, worüber Daniel sich wundert, weil er nie darüber nachgedacht hat, dass Rehe Wiederkäuer sein könnten, und erinnert sich plötzlich, dass er als Kind oft mit der Mutter hierherfuhr, oft und gern, am Spätnachmittag, vor allem im Sommer, wenn Conny von der Arbeit nach Hause kam.
Sie arbeitete schon damals als Sekretärin der Bildungsstätte, eine Tätigkeit, über die sie wenig sprach, die sie inhaltlich nicht zu interessieren schien, für sie nur einen Broterwerb, eine sichere Einkommensquelle darstellte, lebte schon damals diesen Rhythmus, 8 bis 16:30 Uhr, der ihr immerhin die Sicherheit gab, die kleine Wohnung in der Sozialbausiedlung, Daniels Klamotten, einen Auslandsurlaub pro Jahr bezahlen zu können. Es war ein geregeltes Leben, erinnert er sich, auch wenn die Mutter zu Hause manchmal überraschend unordentlich sein konnte, früher ja einmal anders gelebt hatte, sich das aus ihrer Jugend bewahrt zu haben schien, einer Jugend, in der sie laute, schnelle Musik gemacht und gehört hatte. Ein paar Zeichen in der Wohnung erinnerten noch an diese Zeit, einige Aufkleber, ein altes Ton-Steine-Scherben-Plakat, das lange, vielleicht aus Nostalgie, vielleicht aus Nachlässigkeit im Badezimmer hing, die Musikzeitung, die noch jahrelang im Abo nach Hause kam. Die Mutter hatte es nicht einfach gehabt, weiß er, sie musstenmit wenig Geld auskommen, trotzdem gab sie ihm nie das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen, sie war da, wenn er sie brauchte, kam nach der Arbeit sofort heim, um die freie Zeit mit ihm zu verbringen, zum Beispiel eben hierherzufahren, zum Wildfreigehege. Ihre eigenen Interessen hatten dahinter zurückstehen müssen, sie machte keine Musik mehr, dachte nicht mehr an Platten, die sie hatte aufnehmen wollen, auch ihre Beziehungen mussten hinter Daniel zurücktreten. Nach dem Mann, dessen Nachnamen Daniel heute noch trägt, dem Mann aus dem Kongo, hatte sie jahrelang gar keinen Freund, und auch Gerd, den sie kennenlernte, als Daniel acht war, gerade in die dritte Klasse
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