Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
gekommen war, durfte erst nach zwei Jahren zum ersten Mal mit ihnen in den Urlaub fahren, erst nach sechs Jahren bei ihnen einziehen. Er kam zu ihnen, obwohl die Wohnung klein war, denn Conny wollte – auch das wegen Daniel – nicht aus der Nachbarschaft weg, der Junge hat viele Freunde hier, erklärte sie dem Mann, sie wolle nicht, dass er aus seinem Umfeld gerissen werde. Trotz allem eine sichere Kindheit also, erinnert sich Daniel, wohlbehütet, aber auch eng und ziemlich provinziell, die Verhältnisse waren bescheiden, aber nicht elend, er hatte nie das Gefühl, verzichten zu müssen, konnte sogar Tennisspielen gehen, als sie im Freundeskreis den Tennis-Wear-Style und den dazugehörigen Sport für sich entdeckten, und war dann doch heilfroh, als er endlich aus dieser Kindheit fortkam, zum Zivildienst nach Hamburg, sich mit dem ersten Gehalt ein eigenes Zimmer einrichten konnte, sachlich, ein bisschen unpersönlich, aber anders als bei der Mutter, mit Stil.
Ein paar Krähen steigen kreischend in die Luft auf, ein Jogger kämpft sich den Weg hinauf, das Gesicht schweißüberströmt, und Daniel fragt sich: War er wirklich oft und gern hier am Wildfreigehege, hatte er wirklich eine behütete Kindheit, war er wirklich mit der Mutter glücklich oder erinnert er das nur?
Erinnerung kann täuschen.
Eigentlich hat ihn die Frage, die sich angeblich so viele Kinder aus flüchtigen Beziehungen, Nicht-Beziehungen stellen, nie beschäftigt: War ich nicht nur ungeplant, sondern auch unerwünscht? Hat man mich als Last empfunden? Aber eine andere, damit zusammenhängende Frage stellt er dann doch:
Was hat dir an Fil gefallen, warum fandest du ihn gut? Du hast einmal gesagt, er war charmant. Aber war das alles?
Sie zögert. Macht ein Gesicht, als werde sie, als müsse sie gleich zugeben, dass sie nach einem Konzert mit dem Vater abgestürzt ist, ich hatte, wir hatten beide viel getrunken, dann ist es passiert ; in gewisser Weise würde das den Vater noch interessanter erscheinen lassen: wenn er jemanden, der sein Leben so kontrolliert führt wie die Mutter heute, zu Exzessen hätte anstiften können.
Aber sie sagt schließlich etwas Anderes: Der Vater sei witzig, sehr witzig gewesen. Und leidenschaftlich. Er habe das, was er gemacht hat, immer genossen.
Sie erreichen das Wildschweingatter.
Ein Eber schmeißt sich in den Schlamm und grunzt. Wirft sich von einer Seite auf die andere.
Genossen? fragt Daniel und blickt auf das grunzende Tier.
IV
Zurück in Berlin macht er sich, noch bevor er Steffen gesehen hat, ohne sich mit Steffen besprochen zu haben, an den Umzug, stopft seine Kleider, die CD s, Uni-Unterlagen in einen großen Seesack und nimmt die Straßenbahn Richtung Westen, geht die letzten Meter zur Wohnung zu Fuß. Der Himmel eine Styroporplatte, die beim Betrachten zerbröselt; die Wolkendecke reißt auf, dahinter eine grelle Flüssigkeit aus Licht.
Daniel weiß, dass er jetzt eigentlich nicht einfach gehen darf, sich gemeinsam mit dem Mitbewohner um Nachmieter kümmern müsste, er den Freund nicht hängenlassen kann, denkt dann aber auch, dass es sein Vater ist, der gerade im Sterben liegt, und dass er ein paar Tage Ruhe braucht, die leere, geräumige Wohnung eine Weile für sich haben will.
Schnaufend, den Seesack geschultert, steigt er also die drei Stockwerke, sechs Treppenabsätze, 66 Stufen hinauf, an den Plakaten der Anderswo-weiß-man-wie-man-streikt-Nachbarn vorbei, sperrt die Tür auf, die ebenfalls leicht klemmt, nicht so stark wie bei Conny in Göttingen, aber ebenfalls leicht, wenigstens eine Sache, die die Eltern verbindet, und spürt dann als Erstes die Stille im Raum: durchdringend wie ein Nadelstich durch den Nacken ins Kleinhirn. Er lässt den Seesack im Wohnzimmer fallen, schaltet die Stereoanlage an und legt die erstbeste CD ein, die ihm in die Hände fällt: Brazilian Funky , Fils kryptische Handschrift auf einer Plastikscheibe.
Weil er Hunger hat, beginnt er, nach Lebensmitteln zu suchen, haltbaren Lebensmitteln, die Fil für den Fall einer Rückkehr aus dem Urlaub, mehrerer aufeinander fallender Feiertage in der Küche deponiert haben könnte. Die Auswahl ist größer als gedacht: H-Milch und Müsli, Knäckebrot-Roastbeef, Nudeln-Tomatensoße, Thunfisch, und noch während er überlegt, was er jetzt essen könnte, in welcher Reihenfolge er was essen könnte, hat er plötzlich zum ersten Mal das Gefühl, dass ihm das Leben aus den Händen gleiten könnte: der Vater auf der
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