Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
für Journalismus mehr Eigeninitiative hätte mitbringen müssen, also hält er, anstatt über französische Filme zu reden, sein Glas zum Anstoßen hin, und esmacht sich bezahlt, dass er nicht den Supermarktwein, den 2,99-Euro-Reserva von Aldi, sondern zwei Flaschen aus dem Fachhandel gekauft hat, dass er, obwohl er abgebrannt ist, einen beträchtlichen Teil der einhundert Euro, die ihm die Mutter in Göttingen zugesteckt hat, in dieses Abendessen investiert hat, denn die Frau, er denkt an ihre Narben, an die über den Körper verteilten Narben, die sie ihm vielleicht noch zeigen wird, zieht die Mundwinkel hoch und gibt ihm zu verstehen, dass sie sich mit Wein auskennt, zumindest einen Supermarkt-Rioja von einem französischen Touraine unterscheiden, vielleicht auch nur das Etikett eines Qualitätsweins von dem eines Aldi-Weins unterscheiden kann. Auf jeden Fall werden die beiden entspannter, drehen die Musik auf, tanzen ein wenig, das heißt, sie zeigt ihm Tanzschritte, und es macht sich weiterhin bezahlt, dass Fils Wohnung so aufgeräumt und sauber aussieht, dass sich die Frage nicht stellt, wann die Bettlaken zum letzten Mal gewechselt worden sind, man in diesem Bett gern eine Nacht verbringt. Das heißt, die normalen Berührungen gehen in Zärtlichkeiten über, Daniel wird hinterher nicht genau sagen können, wie, sie fangen an sich zu küssen, schieben sich gegenseitig durch die Wohnung, durch den Flur, an Fils nicht ganz abgezogenen Tapeten vorbei ins Schlafzimmer, aber bevor sie sich ausziehen und er für einen Moment alles vergisst, den Vater, die Krankheit, das Studium, die bevorstehenden Prüfungen, für die er nicht gelernt hat, die Begegnung mit der Mutter, noch bevor er sich selbst vergisst, kramt Daniel unauffällig die Kondome aus der Tasche und schiebt sie unter die Matratze, damit er sie später griffbereit hat.
Nachts träumt er von Fil. Sieht ihn im Nebenzimmer in seinem Sessel sitzen und lächeln, als hätte er alles eingefädelt – die Krankheit, den Einzug, Sarahs Besuch. Er sieht ihn, aber weiß nicht, wer dieser Mann ist, der lächelnde Unbekannte, der die Fäden zieht.
Es ist dieser Traum, der Daniel nach dem Aufwachen als Erstes nach dem Buch auf dem Nachtischchen greifen lässt, Fils Krankenhausbuch. Der Absatz, diesmal hellblau markiert: Mein Herz wurde nun zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand. Von außen konnte der Fremde nur in dem Maße kommen, in dem er zunächst innen aufgetaucht war . Wie passend, denkt Daniel, wie passend, wenn man verstanden hat, was es bedeutet; es ist allerdings nicht ganz leicht zu verstehen.
Ohne Sarah anzuschauen, ohne sie noch einmal anzufassen, steht er auf und geht ins Wohnzimmer hinüber, es ist warm, schon am frühen Morgen wieder sehr warm, und öffnet den Kleiderschrank. Die Lachssoße vom Vorabend schwappt die Speiseröhre hinauf, verbreitet einen schalen Fischgeschmack, ihm ist schlecht. Aufmerksam inspiziert er den Schrankinhalt: Trainingshosen, Adidasjacken, mit Skateboard fahrenden Rastas bedruckte T-Shirts; eine Aura von Berufsjugendlichkeit. Als habe der Vater nicht gut mit vergangenen Lebensphasen abschließen können, als habe er versucht, um jeden Preis an der Vergangenheit festzuhalten. Daniel betrachtet die Jacken, Pullover, T-Shirts und macht sich dann an die Ablage mit den Buchhaltungsunterlagen, zieht den erstbesten Ordner heraus und ist in diesem Moment wirklich überrascht, kann kaum glauben, was er da sieht: sorgfältig abgeheftete Rechnungen, Register, Klarsichtfolien, Arbeitsmappen. Der Vater hat nicht nur als Buchhalter gearbeitet, er war auch ein Pedant, hat die Kassenbons mit Bleistift fein säuberlich durchnummeriert, Gesprächsnotizen mit bunten Merkzetteln beklebt, Nummerierungsfehler gewissenhaft korrigiert.
Daniel breitet die Mappen auf dem Boden aus, um die unerwartet ordentliche, vielleicht sogar zwanghaft-pedantische Seite des Vaters auf sich einwirken zu lassen, und bemerkt dann ein gesondert stehendes Bücherregal auf der gegenüberliegenden Zimmerseite. Er durchquert den Raum, zieht das erstbeste Buch heraus, schlägt das dünne, stoffgebundene Bändchen auf, Lyrik, fragt sich: Was hatte der Vater mit Gedichten am Hut? Der einzige Mensch in Daniels Leben, der sich mit Lyrik beschäftigt, ist der Professor für mittelalterliche Philologie. Daniel nimmt noch weitere Bücher in die Hand, sucht nach einem Hinweis, einer Erklärung für Fils Interesse, Lyrik: eine
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