Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
gesagt, erwidert sie, er interessiere sich für die achtziger Jahre?
Sind nicht unbedingt die Achtziger, für die ich mich interessiere , sagt die Stimme, als wäre es nicht seine.
Fil habe es hier gefallen. Sie sei drei- oder viermal mit ihm hier gewesen.
Gefallen? Wegen der roten Fahnen?
Er unterschätze Fil. Der Vater habe Einreiseverbot in der DDR gehabt.
Ihm fällt das Krankenhausbuch wieder ein: eine Extrasystole wie das Fallen eines Kieselsteins in die Tiefe eines Brunnens . Wie wird man für sich selber etwas, das man sich vorstellt?
Extrasystole, ein eigenartiges Wort, er musste es nachschlagen.
Warum Einreiseverbot?
Fil, erklärt die Frau, habe für Bekannte Bücher und Zeitungen nach Ostberlin geschmuggelt: eine Walter-Benjamin-Gesamtausgabe, die Zeitschrift radikal . Ein Stasispitzel habe ihn verpfiffen, danach habe er nicht mehr in den Osten gedurft.
Aber warum? fragt er, endlich ist die eigene Stimme zurück. Warum hat er das getan?
Warum wohl? Weil es die Bücher im Osten nicht gab, weil sie verboten waren.
Ich verstehe, sagt Daniel zögerlich, Fil war integer, du willst mir zeigen, wie integer er war. Aber trotzdem war er in meinem Leben nicht präsent; trotzdem begreife ich immer noch nicht, warum er in meinem Leben so wenig präsent war.
Sie blickt ihn an, spielt mit der Zeitung in ihrer Hand, Neuer Weg , neuer Weg wohin?, schüttelt den Kopf.
Nein, nein, das habe sie ihm nicht zeigen wollen. Deswegen sei sie nicht mit Daniel hierhergekommen.
Oberhalb der Ortschaft essen sie zu Mittag. Kohlrouladen mit Polenta, typisch, sehr typisch für die Gegend, behauptet Ela, und er betrachtet die Hotelanlage, den von einem übergesiedelt-zurückgekehrten Siebenbürger Sachsen betriebenen Gasthof. Wie Hornbach, denkt Daniel, wie ein Gartencenter-Ausstellungspark: Fertigbauholzhaus im Schwarzwälder Stil mit Swimmingpool, kastanienbraunem Anbau und Minigolfanlage.
Ela kaut lustlos ein paar Bissen, um dann unvermittelt ihr Besteck beiseitezulegen. Ihre Finger laufen über den Tisch, krabbeln wie Ameisenbeine über die Platte, sie zieht ein Foto aus der Tasche, die auf dem Stuhl neben ihr liegt, und schiebt das Bild zu Daniel hinüber.
Das Foto zeigt einen Mann, Ende dreißig, penibel rasiert, in zu engen Kunststofftextilien.
Daniel braucht eine Weile, um zu verstehen.
Ihr Vater?
Sie nickt.
Als sie in den Westen wollten, erzählt sie, sei er nach Bukarest gegangen. Danach habe sie nichts von ihm gehört.
Sie verstummt, fügt hinzu:
Erst viel später habe ich die Geschichte verstanden.
Er muss zu essen aufhören, auch er muss sein Besteck beiseitelegen, bis sie endlich zu erklären anfängt, etwas erzählt, das sie offensichtlich nur selten erzählt.
Der Vater sei in Rumänien geblieben, die Eltern hätten sich schon vor der Übersiedlung getrennt, im letzten Jahr vor der Ausreise habe sie ihn nicht mehr gesehen. Die Mutter habe behauptet, der Vater sei in die Hauptstadt gezogen und dürfe wegen des Ausreiseantrags der Frau keinen Kontakt mehr zu ihnen halten, es sei gefährlich für ihn, er werde aber nachkommen, in einiger Zeit sicher nachkommen, und Ela, sie sei elf gewesen, habe der Mutter geglaubt, habe gedacht, die Trennung sei Teil des Ausreiseplans. So seien sie ohne den Vater in den Westen gegangen, ohne den Vater noch einmal zu sehen, erst später habe sie sich zu wundern begonnen, erst als auch im Westen kein Brief ankam, keine Rede mehr von der Ausreise des Vaters war, nicht einmal Geburtstagskarten eintrafen. Sie habe die Mutter ein paar Mal gefragt, aber nur ausweichende Antworten erhalten, denn die Mutter habe getrunken, Tabletten genommen, sei kaum ansprechbar gewesen, habe nur immer wieder ihre alte Geschichte wiederholt, vom Vater, der zurückgeblieben war, weil er nicht zur deutschen Minderheit gehörte, sich weiter um eine Ausreisegenehmigung bemühte.
Sie habe die Version geglaubt, obwohl sie offenkundig keinen Sinn ergab, obwohl der Vater dann ja trotzdem hätte schreiben können, schreiben müssen. Sie habe die Geschichte der Mutter geglaubt und den Vater zu idealisieren begonnen – den Vater, der nicht wie ein Loch trank, unansprechbar war, mit zwei Heftchen Lyrik hausieren ging, die die Konrad-Adenauer-Stiftung aus Mitleid oder propagandistischem Interesse verlegt hatte, sich nicht als Dissident herumreichen ließ.
Meine Mutter, sagt sie, war eine trostlose Figur, gab im Westen eine so trostlose Figur ab, dass mein Vater zur Lichtgestalt wurde.
Aber die
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