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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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verabschieden wollte.
    Sie haben sich gekannt, Ela und er, sie haben zusammen Ausflüge gemacht. Warum hat er sich nicht an ihr Gesicht erinnert, sie nicht auf den Fotos erkannt? Gibt es etwas, das er , das Daniel, aus der Erinnerung gelöscht hat? Ist irgendetwas vorgefallen, das Fil dazu brachte, den Kontakt abzubrechen, und woran Daniel sich nicht erinnert? Ein äußeres Ereignis, das alles erklären würde? Und warum fällt es der Mutter so schwer über die Geschichte zu reden?
    Reglos liegt er auf dem Bett. Aus dem Magen steigt der Knoblauchgeschmack der Fleischpfanne auf, die sie am Abend in einer Dorfgaststätte gegessen haben, alles wirkt unwirklich, wie in Watte eingepackt.
    Er hat nichts mehr in ihrem Haus verloren und ist doch immer noch hier. Weil er dem Vater schon zu ähnlich geworden ist, sich Fils raumgreifende Rücksichtslosigkeit zu eigen gemacht hat? Ich habe es verbockt , denkt Daniel, alles verbockt .
    Er legt sich die Hand auf die Brust. Heben und Senken des Brustkorbs. Ein Körperteil, der auch von anderen stammen kann.
    Bei Schwangerschaften, hat Daniel einmal gelesen, schüttet der Körper der Frau Stoffe aus, um die Entzündung, die der Fötus hervorruft, in Schach zu halten. Kinder: das Fremde, das ins Eigene eindringt, um es fortzuführen.
    Sind Eltern im Gegenzug nicht zwangsläufig immer das Eigene im Fremden? Jenes andere Organ, das immer schon da war?
 
    Sie frühstücken nicht, trinken nur einen Kaffee, steigen in den Wagen. Sie erklärt nicht, wo es hingeht, beginnt erst, als die Stadt hinter ihnen liegt, sich die Karpatenzüge in der flirrenden Luft vor ihnen abzeichnen, etwas zu erzählen, in einem Plauderton mit Daniel zu reden, der nicht zu den Ereignissen vom Vortag passt, den er nicht einordnen kann. Dass das vor ihnen liegende Dorf als Zentrum der deutschen Minderheit gegolten habe, im Ortskern eine Wehrkirche aus dem 13. Jahrhundert stehe, ein paar Schriftsteller von hier stammten, deren Namen sie allerdings vergessen habe, und Daniel nickt stumm, versucht keine Angriffsfläche zu bieten.
    Sie parkt unweit der Dorfmitte, führt Daniel in die Wehranlage, mit der sich die Christenheit , wie eine Tafel erläutert, gegen anbrandende Mongolen- und Türkenstürme geschützt haben soll; im Belagerungsfall, liest Ela mit spöttischem Unterton vor, seien alle drei christlichen Religionen – Orthodoxe, Katholiken, Protestanten – ihrem Kult friedlich nebeneinander nachgegangen , Kult gegen Stürme, wiederholt sie ironisch, Protestanten gegen Mongolen , vertieft das Thema aber nicht weiter, sondern stößt die schwere, knarrende Holztür zu einem in die Wehrmauer eingelassenen Nebenraum auf. Sie steigen eine Treppe hinauf, an der Wand prangt ein Plakat mit der Aufschrift Cei ș apte piloni ai comunismului , die sieben Säulen des Kommunismus, und betreten einen Ausstellungsraum – große, vergilbte Bilder hängen an Nylonfäden von der Decke. Der große Conducator Ceauşescu, dem alten Charlie Chaplin erstaunlich ähnlich, eine zu ihrem geliebten Führer aufblickende Kinderschar, die im Wind flatternde rot-gelb-blaue Trikolore. Daneben glückliche Fabrikarbeiterinnen, die enthusiastisch applaudieren: dem Fortschritt, ihrem Staatschef, dem rumänischen Vaterland. Viele Losungen sind auf Deutsch, denn das rumänische Irrenhaus, sagt Ela, pflegte seine Minderheit, diese Minderheit, und Daniel inspiziert die Wimpel und Banner, auf denen Parolen, Pionierlosungen, grammatikalisch komplizierte Sätze zu lesen, aber kaum zu verstehen sind: Wir geloben unserem Volk und dem Genossen Nicolae Ceauşescu, Vater der Nation, hart und diszipliniert an uns zu arbeiten, um das in uns gesetzte Vertrauen zu erfüllen und das rote Halstuch mit der Trikolore zu Recht tragen zu dürfen . Die glorreichen Siege der Revolution: die Umleitung der Donau, der große Volkspalast von Bukarest, die machtvolle Raffinerie von Constanza.
    Auf einem Tisch in der Ecke entdeckt Daniel alte Zeitungen, Ausgaben des deutschsprachigen Parteiblatts, blättert sie durch, fast jeder Artikel beginnt mit dem Halbsatz »in Anwesenheit des lieben Genossen und Parteiführers«.
    Warum zeigt sie mir das? fragt er sich. Was hat das mit dem Vater zu tun? Oder will sie nur die Reiseleiterin spielen? Sich zum Abschied noch einmal von ihrer gastfreundlichsten Seite zeigen?
    Bizarr, sagt er, als sei die Stimme nicht seine, als wäre das Wort in genau diesem Raum schon einmal von jemand anderem gesagt worden. Bizarr.
    Habe er nicht

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