Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
immer wieder gesagt. Doch er habe darüber nicht reden wollen, versuchte den Kleinfamilienterror schon im Ansatz zu ersticken, sie müsse allerdings auch zugeben, dass ihr Leben nicht besonders kinderkompatibel gewesen sei.
Was sie damit sagen wolle.
Eine heikle Frage.
Die Supermarktplünderungen, schlägt Daniel vor.
Sie winkt ab, und er überlegt, was es dann gewesen, was an ihrem Leben so gefährlich, schwierig oder wichtig gewesen sein könnte, traut sich nach dem, was vorgefallen ist, aber auch nicht weiter zu fragen. Sie führt den Kaffee zum Mund, trinkt ihn in einem langen Schluck leer, stellt die Tasse in die Spüle, sagt:
Ich ertrage es nicht, wenn man mich ausspioniert. Du hast Glück gehabt, dass ich keinen Knüppel in der Hand hatte. Ich hätte zugeschlagen.
Sie geht an ihm vorbei zur Tür hinaus. Durch das Fenster sieht er sie in den Innenhof treten, sich unter die Weinreben stellen, und weiß immer noch nicht, ob er jetzt gehen muss oder eine zweite Chance bekommen hat.
Nach einer Weile gibt sie ihm durch die Scheibe ein Zeichen. Er folgt ihr, sie schlendern durchs Dorf. Pastellgrüne, himmelblaue, schweinchenrosane Hofmauern leuchten in der Nachmittagssonne, der Schatten eines alten Dacias fällt auf die Straße, wirft Umrisse einer vergangenen Zeit – Umrisse, die im Staub verschwimmen. Daniel geht schweigend neben ihr her, fragt sich, ob sie ihm wirklich verzeiht, sie Mitleid, vielleicht sogar eine Spur schlechtes Gewissen hat, weil auch sie sich gegenüber Daniel anders hätte verhalten können.
Leuchtend grüne Arkaden, die der Wein zwischen den Häusern formt.
Durch die Ritzen eines zusammengenagelten Blechverschlags sieht man Hühner im Dreck picken. Zerzaustes Gefieder.
Unvermittelt beginnt sie von Fil zu erzählen: Sie seien auf dem Land unterwegs gewesen, in Brandenburg, mitten im Winter, ein eisiger Tag. Die Seen seien zugefroren, von Pulverschnee überzogen gewesen, hätten wie gekalktes Glas ausgesehen. An einer Stelle hätten Rentner in einem Eisloch gebadet, sie seien nackt gewesen, eine von den Frauen habe eine Thermoskanne in der Hand gehalten und Tee ausgeschenkt. Die Haut der Alten habe weißlich-blau geschimmert, an die Haut gerupfter Hühner erinnert, und Fil habe sich sofort ausgezogen, um zu den Alten ins Wasser zu springen.
Den Leute habe das natürlich gefallen, sie hätten sehr gelacht.
Er musste immer im Mittelpunkt stehen, sagt Daniel.
Vielleicht, ja, erwidert sie, trotzdem habe es Spaß gemacht, mit ihm unterwegs zu sein.
Unter einem Pflaumenbaum bleibt sie stehen; ein Hund trottet vorbei, knurrt kurz, zieht dann doch seinen Schwanz ein.
Wenn Fil ihm doch auch scheißegal sein könnte, sagt Daniel.
Wie wem?
Wie ihr.
Wer sage, dass Fil ihr egal sei?
Immerhin habe sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.
Sie blickt die Straße hinunter, am Ende des Dorfes verliert sich die Gasse zwischen wucherndem Unkraut. Daniel nimmt einen Kieselstein und schleudert ihn auf die andere Straßenseite in den Sand.
Das ist etwas Anderes, sagt sie schließlich. Egal ist er mir nicht.
Als er am Abend wieder in der Kammer liegt, benommen aus dem Fenster in die Dämmerung starrt, benommen, weil er immer noch in diesem Haus ist, nach diesem Tag, dem Streit immer noch hier ist, die flachen, verwitterten Dachziegel der Nachbarhäuser betrachtet, als er eine Fliege kreisen hört, die stumpf gegen das Glas schlägt, immer wieder den gleichen Kreis dreht und scheitert, als er Glocken läuten, eine Herde Schafe blöken, jemanden die Holzklöppel schlagen hört, mit denen die Gläubigen hier zum Gottesdienst gerufen werden, denkt er an zu Hause: an Fil auf der Intensivstation, an die leere, geräumige Wohnung, Steffens bevorstehenden Umzug, für einen Augenblick auch an jenes Plakat in der Küche. Learning from Lagos.
Eine ganze Weile, einen undefinierbar langen Zeitraum treibt er so zwischen Benommenheit, Erschöpfung und Erleichterung. Unter dem Fenster, zwischen den Weinstöcken, breiten zwei ältere Frauen ihre Stimmen zu einem Geräuschteppich aus, durch den hangaufwärts gelegenen Eschenhainstreicht Wind, Mauersegler ziehen scharfe Bahnen am Abendhimmel, und Daniel wundert sich, wie unwirklich der Tag im Rückblick erscheint: Michaelas Wutausbruch, als sie ihn in ihrem Zimmer überraschte, ihre Frage, für wen er arbeite, als sei er ein Spion, Daniels klagende Entschuldigungen, ihr plötzlicher Stimmungswandel, als er an der Küchentür stand und sich
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