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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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ziehen ganze Handlungen an einem vorüber? Sind die Bilder des Sterbens bewegt? Und sieht man überhaupt Bilder oder vermischen sich die Sinne? Landschaftsaufnahmen, Tagesabläufe, Alterungsprozesse von Menschen, die einem nah waren, Gerüche, Gefühle, Wörter, Bilder, Musik?
    Welche Rolle wird er, wird Daniel spielen, wenn Fil stirbt, falls Fil stirbt? Wird der Vater überhaupt etwas erinnern, wenn er doch schon vor dem Tod in einem Zustand am Rande der Existenz lag?
 
    Ob Daniel ein Auto habe, fragt sie plötzlich.
    Warum?
    Habe er eins?
    Er verneint.
    Ich will an einen See fahren.
    An einen See?
    Sie lacht, wieder lacht sie.
    Ihr sei heiß, wäre er nicht auch lieber irgendwo, wo es nicht nach Hundescheiße rieche?
    Er schnuppert, es stimmt, die Luft ist nicht nur heiß, stickig, feucht, drückend, sie stinkt auch, stinkt erbärmlich nach Hundescheiße.
    Sie könnten ein Auto mieten, antwortet er.
 
    Und so mieten sie sich einen Wagen, gehen zu einem, dem Autoverleih, bei dem alle Berliner ihre Kleinlaster, Kastenfahrzeuge, Umzugsplanwagen leihen, und plötzlich fällt Daniel ein, woher er die Frau neben sich kennen könnte, zu kennen glaubt, sie sieht aus wie eine Sängerin, wie die Musikerin, die Steffen und er eine Zeitlang oft im Netz angeschaut haben. Er hat einmal von ihr gelesen, glaubt, von ihr gelesen zu haben, sie sei arabischstämmige Französin, von der er aber weniger biographische Angaben oder die Stimme als ihre Bewegungen, als ihr Bild in einem Musikvideo erinnert: Die Frau, nicht besonders groß, die Haare hochgesteckt, geht in einem weißen Mantel durch einen Wald, schreitet durch den Wald, es ist Herbst, sie läuft über trockenes Laub, mürbe knacken die Blätter, folgt einem dünnen roten Faden, der sich durch den Clip zieht wie eine schlechte Metapher, oder eine vielleicht doch gar nicht so schlechte Metapher, sie lächelt. Das hat ihnen gefallen, obwohl es ein inszeniertes, berechnendes Lächeln war, Steffen und er haben das Video immer wieder aufgerufen, und nun sieht die Frau neben ihm, die Frau vor der Toreinfahrt, die ihr Rad aufpumpende Frau, die er angesprochen hat – aber vielleicht täuscht die Erinnerung – genauso aus wie diese Musikerin, wie jene zehn oder fünfzehn Sekunden kalkuliertes Lächeln, das die Sängerin der Kamera schenkt, berechnend und doch sehr schön, als würde sie über den Dingen stehen, als könnte sie einen verzaubern.
    Die Vorstellung kommt Daniel plötzlich absurd, sehr arm vor, Steffen und er vor dem Computer, wie sie mit einem Mausklick immer wieder die gleichen fünf Sekunden Lächeln auf den Bildschirm bannen, ist das nicht ein Beleg für die Erbärmlichkeit ihres Daseins, hätte der Vater nicht genau das als Beweis ihrer Trostlosigkeit bezeichnet? Aber vielleicht auch nicht, vielleicht hätte sich Fil genau dafür begeistert: für diese eigenartige Bildschirm-Romantik.
 
    Ob sie singen könne, fragt Daniel, ob sie fesselnd in die Ferne blicken könne?, rein virtuell?
    Ist das so eine Art Fetisch von ihm?
    Sie sehe aus wie jemand bei Youtube.
    Jeder ist heutzutage irgendwo auf Youtube.
    Er überlege die ganze Zeit, woher er ihr Gesicht kenne, er glaube, er wisse es jetzt, sie sehe aus wie eine Sängerin, wie die Gastsängerin von Thievery Corporation, er habe gelesen, sie sei arabischstämmig, das würde doch passen.
 
    Sie mieten den Kleinwagen auf ihren Namen, weil Daniel Personalausweis und Führerschein zu Hause vergessen hat, das wäre ihm früher nicht passiert, früher : vor vier Wochen, und für einen Augenblick fragt er sich, ob sich das Musikvideo nicht gerade ins reale Leben verlängert, die Frau mit ihrem vielsagenden Gesichtsausdruck, den zwar nicht hochgesteckten, aber hinter das Ohr geschobenen Haaren, die bei jedem Schritt leicht federn, dem in die Ferne gerichteten Blick, als schaue sie über Zeitbögen hinweg, aus der Gegenwart in die Vergangenheit der Zukunft, wie jemand, der ahnt, wie es sich anfühlen wird, gewesen zu sein.
    Sie erreichen den blauen Toyota, den neben Umzugsplanwagen, Kastenfahrzeugen, Kleinlastern sehr klein wirkenden Toyota, und Dem lässt die Verriegelung aufspringen.
    Ob sie gut fahre, fragt er.
    Warum? Habe er Angst als Beifahrer, sei er so ein Kontroll-Freak, der immer selbst am Steuer sitzen müsse?
    Kontroll-Freak, denkt er, ja, eigentlich genau das.
    Früher.
    Sie steigen in den Wagen, der Geruch von Putzmitteln und warmem Plastik stürzt ihnen entgegen, überraschend pedantisch macht sie sich mit

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