Der eine Kuss von dir
ahnen müssen. Natürlich! Und im Grunde habe ich es die ganze Zeit gewusst, dass die ganzen Lügen, die Heimlichtuerei genau hier enden würden. Es wäre doch zu schön gewesen, zu glatt. Und wieso bilde ich mir überhaupt ein, so ein Milo könnte mich toll finden. Wirklich toll. Ich war da als Abwechslung für Linda. Wahrscheinlich war das Ganze für ihn ein Spiel, ein Zeitvertreib, ein Nervenkitzel, über den er irgendwann einen Song schreiben wird, wenn überhaupt. Ich kann nicht begreifen, wie ich so dumm sein konnte.
Wütend ziehe ich meine Schuhe und Socken aus und strecke meine Füße ins kühle Wasser. Ein Vogel schreckt aus dem Schilf auf und flattert über meinen Kopf davon. Ich lasse meinen Blick über den See schweifen, über den dunklen Horizont und kann mir nicht vorstellen, wieder zurückzugehen, um in der Ecke zu sitzen und zu hoffen, dass Milo doch noch mit mir redet. Noch schlimmer ist der Gedanke daran, heute Nacht alleine zu schlafen oder die ganze Zeit wach zu liegen und an die Decke zu starren, bis der Morgen endlich anbricht, um mich dann, völlig übermüdet, durch den nächsten Tag zu schleppen.
Als ich hinter mir ein Rascheln höre, springe ich auf, schnappe mir meine Schuhe und laufe schnell den Weg wieder zurück, den ich gekommen bin.
Vor der Kneipe setze ich mich auf die alte Steintreppe, wische mit den Socken den Dreck von meinen Füßen und schlüpfe in die Boots, dann gehe ich rein. Ich bleibe in der Tür stehen. Die Leute sind weniger geworden. Milo sitzt immer noch an der Bar und spricht mit Jenny und noch zwei Frauen. Die anderen sitzen um den Tisch und nippen müde an ihren Flaschen. Ich versuche, Edgar auf mich aufmerksam zu machen, ohne dass die anderen etwas davon bemerken. Ich klingle ihn kurz auf seinem Handy an, lege auf, bevor er rangeht, er schaut sich im Raum um und entdeckt mich.
Ich winke ihn zu mir. Seine Augenbrauen verziehen sich, aber er steht auf und kommt rüber. Ich gehe durch den Flur bis zur Eingangstür und warte, bis Edgar mich eingeholt hat.
»Was ist los?« Er mustert mich wieder in seiner kumpelhaft besorgten Art.
»Hey. Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun?« Ich trete nervös von einem Bein aufs andere.
»Klar.«
»Könntest du mir meine Tasche holen? Sie liegt hinter dem Tresen. Auch die Strickjacke.«
»Warum holst du sie nicht selbst?«
»Ich dachte, du tust mir den Gefallen!«, erwidere ich und werde ungeduldig.
»Schon gut, schon gut.«
Wenige Augenblicke später ist er wieder da. »Hier.« Er drückt mir die Sachen in die Hand und ich werfe noch einen letzten Blick auf Milos Rücken.
»Können wir kurz mal rausgehen?« Ich schultere meine Tasche und hake mich bei ihm unter, um ihn nach draußen zu bugsieren.
Vor der Tür holt er seine zequetschte Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und hält sie mir hin. Ich schüttle den Kopf. Er zuckt mit den Schultern und zündet sich eine an.
»Hör zu Edgar. Ich fahre jetzt nach Hause …«
»Nicht dein Ernst!«, unterbricht er mich und sieht mich entgeistert an.
»Doch. Ich muss. Ich halte das keine Minute länger hier aus, aber ich will kein Drama oder so. Du weißt ja jetzt, was los ist, und kannst es morgen den anderen sagen, ich will da bloß nicht noch mal rein.«
»Das ist total bekloppt. Morgen ist das letzte Konzert!«, empört er sich.
»Ja schon, aber ich bin hier durch, ehrlich! Bitte versteh mich doch ein bisschen!«, flehe ich ihn an.
»Ist es wegen Milo?«
»Es ist nicht … na ja, schon, aber auch wegen allem anderen, ich mag einfach nach Hause.« Ich setze mich auf die Stufe und atme laut aus.
Edgar beugt sich zu mir runter, legt seine Hand auf meine Schulter. »Ich würde ja mitkommen, aber Karin wollte vielleicht morgen nach Leipzig zum Konzert kommen …«
»Nein, nein …« Ich schüttle den Kopf. »Du musst hier bleiben. Ich wollte dich bitten, für mich noch ein Interview mit Tom aufzunehmen, er hat noch nichts in die Kamera gesagt.«
»Mann, dein Freund zu sein, bedeutet echt Arbeit«, witzelt er, aber als er merkt, dass ich nicht darüber lachen kann, nimmt er mich in den Arm. »Nein, natürlich nicht! Ich bin gern dein Freund.«
Ich reiche ihm meine Kamera und erkläre die einzelnen Knöpfe, den Zoom und zeige ihm die Ersatz-Akkus.
»Ich finde das trotzdem bekloppt«, sagt Edgar. »Findest du nicht, dass es ein bisschen wie Aufgeben ist?«
»Nein, ich glaube nicht. Es ist eher auf sich selbst aufpassen.« Ich stopfe meine Strickjacke in die
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