Der eine Kuss von dir
Filme erinnert, die man gesehen hat, dann müsste das folgendermaßen ablaufen:
Edgar sagt Milo, dass ich nach Hause gefahren bin. Milo fasst sich in die Haare und schüttelt ungläubig den Kopf. Dann packt er Edgar an den Schultern und schreit ihn an, wie er mich denn hat fahren lassen können, und wenn mir was passiert, dann könne er seines Lebens nicht mehr froh werden.
Schließlich wird Milo aus der Kneipe rausrennen, mitten auf der Straße stehen bleiben, sich wild in alle Richtungen umschauen, ein Fahrrad an einem Laternenmast entdecken, das nicht angeschlossen ist. Er wird kurz zögern, aber schließlich doch aufsteigen und kräftig in die Pedale treten. Er wird einem nächtlichen Spaziergänger zurufen: »Wo ist hier der Bahnhof?!«
Völlig außer Atem wird er am Bahnhof ankommen, noch während der Fahrt abspringen, sodass das Rad scheppernd zu Boden fällt. Er wird den Zug einfahren hören, sich rasch orientieren müssen, um mit großen Schritten zum Gleis zu laufen.
Während ich schweren Herzens einsteige, höre ich plötzlich »Frieda!!!« und drehe mich um, sehe Milo auf mich zurennen, lächle, steige wieder aus und laufe ihm entgegen.
Auf halber Strecke fallen wir uns in die Arme.
Milo ist völlig außer Atem und verschwitzt. »Das ist der falsche Zug«, flüstert er und küsst mich. »Dort drüben müssen wir einsteigen. Dort fährt der Zug nach Las Vegas!«
Mein Herz macht einen Satz, als ich in der Bahnhofshalle Schritte höre. Wie gebannt sehe ich zur Schwingtür.
Es ist eine junge Frau mit Rucksack, die hektisch auf das Gleis gerannt kommt.
»Ist der Zug nach Berlin schon weg?«, schnauft sie.
»Nein … nein, der müsste bald kommen.«
»Gott sei Dank.« Sie lässt sich auf die Bank plumsen und lächelt mich dankbar an.
Ich lächle zurück, kann meine Enttäuschung aber nicht verbergen. Ich wende mich wieder dem Fahrplan zu und starre solange drauf, bis endlich die Durchsage für den Regionalexpress kommt.
Völlig erledigt lasse ich mich in die weichen Sitze fallen, der Zug ist fast leer, ich kann mich ausbreiten, meine Füße hochlegen und die Augen schließen. Das monotone Rattern der Räder auf den Schienen lässt mich wegdösen. Endlich.
Als ich um sieben Uhr früh in Berlin aus dem Zug steige, fühle ich mich wie in einer anderen Welt. Die vielen Menschen hetzen an mir vorbei, rennen die Rolltreppen hoch, sprechen hektisch in ihre Handys. Wie jedesmal an diesem verdammten Hauptbahnhof weiß ich nicht, welchen Ausgang ich nehmen muss, um bei der S-Bahn rauszukommen. Ich bleibe erst mal stehen, bis all diese Leute das Gleis verlassen, damit ich einen besseren Überblick habe. Auf gut Glück nehme ich schließlich die hinterste Rolltreppe. Bei LeCrobag hole ich frische Brötchen und Croissants für ein Frühstück mit meinen Eltern. Die werden sich wundern.
Ich fahre schwarz, weil mein letztes Geld für den Bäcker draufgegangen ist, und habe bei jeder Station Angst, ein Kontrolleur könnte reinkommen. Alle sehen verdächtig aus. An der Friedrichstraße muss ich umsteigen und bekomme Seitenstechen beim Versuch, meinen Schritt der Menge, die Richtung U-Bahn drängt, anzupassen. Ich bin zwar überfordert von dieser Hektik, aber auf der anderen Seite auch unendlich froh, endlich aus der brandenburgischen Piefigkeit geflohen zu sein. Trotz der vielen Menschen habe ich das Gefühl, hier freier atmen zu können, zumindest vom Kopf her.
Als ich in die Straße zu unserer Wohnung einbiege, fühle ich sogar Vorfreude auf meine Eltern in mir aufsteigen. Vorsichtig stecke ich den Schlüssel ins Schloss, schlüpfe im Flur aus den staubigen Schuhen, stelle behutsam meine Tasche ab und schleiche mich auf Zehenspitzen in die Küche.
In der Wohnung ist es ruhig, Mama und Papa schlafen noch, das einzige Geräusch ist das Ticken der Küchenuhr und das Zwitschern der Vögel vor dem Fenster.
Ich lehne die Tür an und fange an, den Tisch zu decken, Kaffee aufzusetzen, Frischkäse mit Schnittlauch zu verrühren und Orangen auszupressen. Die Croissants mache ich noch mal im Ofen warm und streiche Butter drüber, damit sie zerlaufen kann.
»Oh mein Gott, was ist denn hier los?« Meine Mutter kommt im Bademantel in die Küche. »Ich dachte schon, die Einbrecher machen sich noch Frühstück.«
»Hey, Mama.« Ich umarme sie, länger als sonst wahrscheinlich, weil sie mich daraufhin stirnrunzelnd mustert. »Du siehst älter aus.«
»Quatsch! Ich war nur eine Woche weg.«
»Aber da ist diese Falte …
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