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Der Einfaltspinsel

Der Einfaltspinsel

Titel: Der Einfaltspinsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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Obduktion stand. Sogar sie wusste, was eine Obduktion war. Aber Henry war nicht tot, sondern in Psychiatrie 3. Eine Stunde später fand sie heraus, dass er dort nicht war. In den folgenden zwei Stunden war sie weitere zwei Kilometer gegangen und wütend. Sie war sogar so fuchsteufelswild, dass sie einen Oberarzt angegriffen und übel beschimpft hatte. Als es spät wurde, fielen ihr die Mädchen zu Hause ein. Sie musste zurück, um sich zu vergewissern, dass sie nichts angerichtet hatten, und um Abendessen zu machen. Ohnehin war sie zu erschöpft, um die Suche nach Henry fortzusetzen. Sie würde es morgen wieder versuchen.

25
    Als sie am nächsten Morgen im Krankenhaus eintraf, war Inspektor Flint eine Tasse Kaffee holen gegangen, und Wilt war anscheinend bewusstlos. In Wirklichkeit dachte er über die Worte des Arztes nach.
    »Vielleicht leidet er an Amnesie und kann sich an nichts erinnern, was ihm zugestoßen ist.« Oder etwas in der Art. Wilt tendierte inzwischen eindeutig zur Amnesie. Er beabsichtigte keinesfalls, eine Aussage zu machen. Er hatte eine schreckliche Nacht hinter sich, von der er einen Großteil damit zubrachte, einem neben der Tür an einen Herzmonitor angeschlossenen Mann beim Sterben zuzuhören. Um ein Uhr war die Nachtschwester auf die Station gekommen, und Wilt hatte gehört, wie sie der Stationsschwester zuflüsterte, sie müssten wegen des Mannes etwas unternehmen, weil er eine Kopplung habe und den Morgen nicht mehr erleben werde, wenn sie das Problem nicht in den Griff bekämen. Als Wilt den Monitorgeräuschen lauschte, verstand er, was sie meinten. Die Pieptöne kamen sehr unregelmäßig, was im Lauf der Nacht immer schlimmer wurde, bis sie kurz vor dem Morgengrauen ganz verstummten und er hörte, wie das Bett des armen Kerls auf den Korridor gerollt wurde. Einen Augenblick lang dachte er daran, die Augen zu öffnen, um herauszufinden, was da vorging, doch das war sinnlos. Zu beobachten, wie der Leichnam raus ins Leichenschauhaus geschoben wurde, wäre lediglich morbide Neugier.
    Stattdessen lag er da, dachte traurig über das Mysterium von Leben und Tod nach und fragte sich, ob an dem »Nahtod-Erlebnis« etwas dran war und daran, dass Leute das Licht am Ende des Tunnels und einen bärtigen alten Herrn gesehen hatten, Gott oder sonst wen, der sie in einen wunderschönen Garten führte, bevor er beschloss, dass sie doch nicht sterben müssten. Entweder das oder sie lungerten um die Zimmerdecke des Operationsraums herum, betrachteten ihre unten liegenden eigenen Körper und belauschten, was die Chirurgen zu sagen hatten. Wilt begriff nicht, warum sie sich die Mühe machten. Bestimmt musste es im »Jenseits« Interessanteres zu tun geben. Die Vorstellung, es könnte faszinierend sein, Chirurgen zu belauschen, die soeben die eigene Operation verhauen hatten, ließ vermuten, dass das »Jenseits« nicht viel Interessantes zu bieten hatte. Was nicht hieß, dass Wilt großes Vertrauen in die Existenz des »Jenseits« hatte. Irgendwo hatte er gelesen, Chirurgen hätten sich die Mühe gemacht, Wörter auf den Lampenschirm im Operationssaal zu schreiben, die nur Fliegen und Personen an der Decke lesen konnten, um herauszufinden, ob sich dort wirklich »Nahtodpatienten« aufhielten. Keiner von denen, die zurückgekommen waren, hatte je zitieren können, was dort geschrieben stand. Für Wilt war das Beweis genug. Außerdem hatte er irgendwo anders gelesen, dass sich das »Nahtod-Erlebnis« durch eine erhöhte Kohlendioxidkonzentration im Gehirn hervorrufen ließ. Alles in allem blieb Wilt skeptisch. Der Tod mochte zwar ein großes Abenteuer sein, wie es einmal jemand formuliert hatte, dennoch war Wilt nicht wild darauf. Er fragte sich immer noch, wohin der Bursche neben der Tür verschwunden war und ob er mit irgendeinem anderen frisch Verblichenen plauderte oder lediglich in der Leichenhalle herumlag, sanft vor sich hin kühlte und Leichenstarre bekam, als die Nachtschwester wieder vorbeikam. Sie war eine große und sauber geschrubbte Frau, die ihre Patienten offenbar am liebsten schlafend antraf.
    »Warum sind Sie noch wach?«, fragte sie.
    Wilt betrachtete sie niedergeschlagen und fragte sich, ob sie immer gut schlafen konnte. »Der arme Kerl neben der Tür ist schuld«, sagte er schließlich.
    »Der arme Kerl neben der Tür? Was reden Sie da bloß? Er macht keinen Lärm.«
    »Das weiß ich«, erwiderte Wilt und musterte sie kläglich.
    »Ich weiß, dass er keinen Lärm macht. Das kann der arme

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