Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Atmosphäre in der Firma nicht mehr ertrug.
Seit dem Vortag war die Nachricht von Saras Tod in aller Munde gewesen, mehr oder weniger böswilliges Gerede, das nur Selbstmord als Erklärung gelten ließ. »Niemand fällt einfach so auf die Gleise« war mit leichten Variationen der Satz des Tages gewesen. Und davon ausgehend schossen die Spekulationen ins Kraut, ohne weiteres Fundament als vier Gemeinplätze der Küchenpsychologie: weihnachtliche Schwermut, die Einsamkeit der Frauen, Heimatferne, kein Sex. Im Grunde alles Quatsch, denn nur wenige in der Firma kannten Sara Mahler gut. Hätte man eine Umfrage gemacht, wäre sie auf der Beliebtheitsskala auf einem der letzten Ränge gelandet, weniger weil die Leute sie unsympathisch fanden, als vielmehr, weil sie sich gar nicht an sie erinnert hätten. Sara fiel nicht auf. E-Mails waren ihr lieber als das persönliche Gespräch, sie kam kaum hinter ihrem Schreibtisch hervor, und bei den Firmenessen war sie stets höflich, ließ aber niemanden an sich heran. Noch dazu war irgendwann das Gerücht umgegangen, ihr sei nicht zu trauen: zu nah an Víctor Alemany, zu reserviert, als dass man den Klatsch mit ihr teilte, zu sehr Ausländerin, um zu verstehen, dass die Leute während der Arbeit zum Rauchen hinausgingen oder mehr als fünf Minuten neben der Kaffeemaschine standen. Und trotzdem wusste César, dass sie sich irrten: Sara war sehr wohl in der Lage gewesen, ein Geheimnis zu hüten … Hoffte er zumindest.
Schluss jetzt, sagte er sich. Er war gegangen, um nicht von Sara zu sprechen, und jetzt bekam er sie nicht aus dem Kopf. Außerdem käme das Thema mit Sílvia sowieso wiederzur Sprache. Er trank sein Bier aus und stellte die Flasche in den Eimer für Glas. Dann ging er ins Wohnzimmer, setzte sich vorsichtig auf die Couch, die wundersamerweise noch so weiß war wie am ersten Tag, und machte den Fernseher an. Auf dem Bildschirm lief irgendeine Spielshow. Ein wenig verdrießlich, zappte César weiter und stieß auf einen Dokumentarfilm über Fische. Das war schon besser, dachte er, und ließ sich von der ruhigen und monotonen Stimme aus dem Off wiegen. Und auf einmal, ob wegen des Biers, weil er die letzte Nacht kein Auge zugetan hatte oder weil die Fische ihn im Grunde überhaupt nicht interessierten, überfiel ihn hinterrücks eine tiefe Müdigkeit. Nur für einen Moment die Augen schließen, sagte er sich, es würde ihm helfen, sich zu entspannen, und ein paar Minuten später war er eingeschlafen, den Kopf zur Seite geneigt, die Fernbedienung zwischen den Beinen.
Plötzlich schrak er auf: eine Berührung an seinem Hosenschlitz. Er hatte so tief geschlafen, dass er zunächst nicht wusste, wo er sich befand, noch, ob es Tag war oder Nacht. Er brauchte eine Weile, um in die Welt zurückzukehren, zu dieser weißen Couch, dem laufenden Fernseher. Und zu Emma, im Bademantel, die ihn mit der Fernbedienung in der Hand anlächelte.
»Guten Morgen«, sagte sie grinsend. »Du hast geschnarcht wie ein Raubtier im Zoo. Arme Mama, kauf ihr besser schon mal Ohrenstöpsel.«
Er musste gähnen. Sein verdutztes Gesicht schien sie zu amüsieren. César merkte nun, dass jemand, Emma, den Fernseher ausgemacht hatte.
»Du hast sowieso nicht hingesehen«, meinte sie.
Ihre Haare waren nass, und als sie die Fernbedienung ablegte, sah César, dass Sílvias Tochter nichts unter dem Bademantel trug. So wie sie sich in eine Ecke der Couch schmiegte, hatte sie etwas von einem weißen Angorakätzchen. Zahm nur dem Anschein nach.
»Wie spät ist es?«, fragte César. »Warst du schon da, als ich gekommen bin?«
»Unter der Dusche, nehme ich an.« Sie sah auf die Digitaluhr neben dem Fernseher. »Es ist noch früh. Bis Mama kommt, dauert es noch.«
César war auf einmal hellwach. Er sah Emma verstohlen an. Sechzehn Jahre. »Wie sechzehn Sonnen« hätte ihre Mutter gesagt. Er stützte die Hände auf die Knie und machte Anstalten, sich zu erheben, aber Emma streckte ihre nackten Beine aus und legte die Füße auf den Couchtisch, eine lächerliche Schranke, leicht zu überwinden.
»Emma … Lass mich durch. Ich muss aufs Klo.«
Sie lachte.
»Flüchten ist was für Feiglinge.« Sie schaute nach unten. »Die Schuhe schmeißt du am besten weg. Die sind billig. Ich bin sicher, dass sie Mama gar nicht gefallen. Mir auch nicht.«
César brauchte ein paar Sekunden, ehe er reagierte. Die Frechheit dieser Kleinen verschlug ihm die Sprache.
»Emma, es reicht!« Seine Verärgerung klang übertrieben,
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