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Der einzige Sieg

Der einzige Sieg

Titel: Der einzige Sieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Abend in der dampfenden Junihitze. Damals war er um einen menschenleeren Roten Platz herumgewandert und einsamer Zuschauer bei einer Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum geworden. Lenin lag offenbar immer noch dort, aber die Menschenschlange war verschwunden.
    Überall Bettler oder Menschen, die sich verzweifelt bemühten, ihr letztes bißchen Hausrat zu verkaufen oder was sie sonst entbehren konnten; er hatte zu seinem Erstaunen überall alte Weiblein gesehen, die Leuten aus dem Westen Fünfzehn-Kopeken-Münzen gegen Dollar anboten. Als man ihm zum dritten Mal ein solches Angebot gemacht hatte, war er stehengeblieben und hatte sich erkundigt, warum er kleine Münzen für Dollar kaufen solle. Die Erklärung war einfach. Wenn man von einer öffentlichen Telefonzelle anrufen wollte, brauchte man Fünfzehn-Kopeken-Münzen.
    Sein Zimmer im Hotel Metropol, in dem er endlich untergekommen war, kostete 225 Dollar pro Nacht. Das war selbst nach westlichen Maßstäben recht teuer. Wenn es tatsächlich stimmte, daß ein Dollar inzwischen mit vierhundert Rubel gehandelt wurde, schlief er also zu einem Preis von fünf bis sechs Jahresgehältern pro Nacht. Das war pervers, möglicherweise auch gefährlich; kein Mensch wußte, welche heftigen Umwälzungen sich in einer nicht allzu fernen Zukunft ereignen konnten, und er hatte schon wiederholt Witze über die Notwendigkeit einer neuen Revolution gehört. Was er gesehen hatte, ließ ihn zu der gleichen Ansicht kommen.
    Ihm war düster zumute, und er fühlte sich mißbraucht und überdies peinlich berührt. Das Spektakel war noch nicht vorbei. Jetzt blieb noch ein Empfang in der schwedischen Botschaft. Wahrscheinlich kannte er dort niemanden mehr, denn es war ja schon ein paar Jahre her. Jedenfalls residierte dort ein neuer Botschafter, und die Militärattachés waren wohl auch ausgetauscht worden.
    Am liebsten hätte er noch einen Spaziergang gemacht, sah aber ein, daß er es nicht schaffen würde. Außerdem würde er seine Sicherheitsbeamten unnötig beunruhigen; diesmal bewachten sie ihn, weil ihm absolut nichts passieren durfte. Nichts war wie früher.
    Er blieb eine Zeitlang am Fenster stehen und sah auf den Roten Platz. Die sowjetische Flagge war schon beim letzten Mal gegen die russische Trikolore ausgetauscht worden. Irgendwie kam es ihm komisch vor, daß der große Ventilator, der die rote Flagge mit Hammer und Sichel immer gestreckt gehalten hatte, unabhängig von der Windstärke, jetzt mit der neuen russischen Trikolore weitermachte, als wäre nichts geschehen. Vermutlich wurde der Ventilator von dem gleichen Personal bedient, das ihn ölte, defekte Teile austauschte und die Stromleitungen prüfte. In bestimmten Bereichen der ehemals sowjetischen Gesellschaft waren die Veränderungen nur kosmetischer Natur. Die gleichen Personen machten die gleichen Dinge wie zuvor. Beispielsweise die Leute, die er am nächsten Morgen treffen sollte. Millionen anderer Menschen wurden jedoch mit den Wurzeln aus allem herausgerissen. Sie mußten zum ersten Mal den Versuch machen, sich vorzustellen, was Hunger und Arbeitslosigkeit ganz konkret bedeuten. Sie waren wie Meerschweinchen in der ökonomischen Experimentierwerkstatt des Westens. Hier sollte ein instant capitalism erschaffen werden, hier sollte sich die Überlegenheit des Systems der freien Marktwirtschaft manifestieren. Es würde natürlich ungeheuer danebengehen wie alles, was solche halbverrückten, halbreligiösen Wirtschaftsexperten empfahlen und weissagten. Es sind Astrologen, dachte er, die Astrologen unserer Zeit. Zu Hause mag es ja angehen. Dort können wir ihnen glauben oder es lassen und sie mehr oder weniger tolerieren, aber hier haben sie sich inzwischen bei Hofe eingeschlichen, so daß Rußland ins Mittelalter zurückgeworfen worden ist.
    Das Telefon unterbrach ihn in seinen pessimistischen Überlegungen. Es war eine Sekretärin der Botschaft, die ihm mitteilte, wann der Wagen kommen und ihn abholen würde.
    Er ging zu dem breiten Bett mit dem schweren, samtähnlichen roten Überwurf, ließ sich rücklings darauf fallen und schaukelte ein bißchen in den Federn, während er den Stuck in Weiß und Gold betrachtete. Die Renovierung des Hotels Metropol, Lenins altem Lieblingsschuppen, mußte mehrere hundert Millionen gekostet haben. In West-Devisen. Man konnte sich fragen, wer das bezahlt hatte und wem der Laden jetzt gehörte.
    Wenn Astrologen, Ausbeuter und Gangster die sich allzu sichtbar abzeichnende und nicht mehr zu

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