Der eiserne Gustav
nach! Sie nahm den Brief vom Schuhschränkchen und legte ihn mitten auf den Tisch. Nach weiteren zwei Minuten rückte sie den Brief näher an sein Buch, eine Minute später ganz nahe an sein Buch – und wäre er noch etwas später hereingekommen, hätte sie ihren Opfermut so weit getrieben, ihn auf das Buch zu legen!
Er kam aber schon herein. »Also denn gute Nacht, Tutti«, sagte er irgendwohin und nahm sein Buch auf. Er stutzte, als er den Brief sah. (Er stutzte ganz echt, hatte ihn also wirklich noch nicht angesehen! Es war unglaublich!) Er las die Aufschrift, den Absender – sagte noch einmal: »Also denn gute Nacht!« und ging zur Stubentür.
»Heinz!« rief sie wie eine Ertrinkende.
»Was denn …?« fragte er ziemlich mürrisch.
»Der Brief!« Sie wies auf ihn.
»Ja? Was ist denn?«
»Lies ihn doch bitte, bitte, Heinz!«
Er sah sie an, und plötzlich, als er sie da so stehen sah, ein Häufchen Unglück, kummervoll, halb weinend, plötzlich fing er an zu lachen, aus vollem Halse zu lachen …
»Tutti! Tutti!« rief er lachend. »Was ist denn heute bloß mit dir los?! Du muckscht mit mir, du tückscht mit mir, du gibst mir auch mein Essen nicht, du sagst kein Sterbenswort zu mir – du bist mich doch nicht krank?!«
Und als sie ihn da so stehen sah, groß und lachend und jung und frisch, da überfiel es sie plötzlich, da begriff sie in einer Sekunde, warum sie sich heute vormittag so sehr über seinen »Betrug« aufgeregt hatte, warum sie mit ihm gestritten und geschmollt hatte – begriff, fühlte, daß sie ihn liebte. Daß der jüngere Mann den älteren überlebt hatte, richtig überlebt, daß nichts mehr von Otto in ihr geblieben war.
Und im gleichen Augenblick, da sie ihre Liebe erkannte, erkannte sie auch, daß er nie, nie etwas davon merken dürfte. Sie sah sich wie in einem Spiegel, den Kopf, der mit den Jahren immer schärfer, immer vogelhafter geworden war, den Buckel … Und sie erinnerte sich, daß er zehn Jahre jünger war als sie …
Und da dies alles durch sie ging, eine ungeheure Woge von Glück und Trauer, die alles in ihr überflutete, da war sie doch auch schon wieder die Schwägerin Tutti, die er kannte. Sie preßte noch einmal die Lippen fest aufeinander, und dann sagte sie: »Du hast wahrhaftig recht, mich auszulachen, Heinz. Ich bin heute rein verdreht. Es muß die Aufregung gewesen sein, erst die Aufregung wegen der Erbschaft, und dann die Aufregung, als du nicht auf der Bank warst, sondern in Urlaub. Wieso hast du eigentlich Urlaub genommen?«
Während sie aber noch so sprach, fühlte sie, wie die Woge in ihr sank und sank, es war vorbei damit. Es war ein Augenblick gewesen, noch einmal, ehe ihr Leben hinabstieg, hatte es sie hochgehoben wie auf einen hohen Berg, und sie hatte alleSchätze der Liebe, des Glücks und der Trauer sehen und eine flüchtige Sekunde fühlen können. Da aber war ihre Lebensmitte überschritten, sie sank zurück in das kleinere tägliche Leben aus Pflicht und Verzicht … Und es war nicht einmal schwer …
Noch lange saßen die beiden und erzählten einander, von Irma und dem viertels bekehrten Großvater, von dem weißen Hause auf der Insel Hiddensee, von der unseligen Eva, der zu helfen sich Heinz hatte beurlauben lassen und die doch keine Hilfe wollte … Von seinem so kläglich mißlungenen Versuch, ihr die Aufregungen um Eva zu ersparen. »Denn die Stärkste bist du auch nicht, Tutti, und manchmal kriege ich Angst, wenn ich dich in der Nacht so husten höre.«
»Ich habe schon immer gehustet, Heinz, und bei uns daheim sagt man: ›Wer lange hustet, lebt lange.‹«
»Ja, bei euch daheim«, sagte er. »Und wer macht mir hier mein Bett? Ach, Tutti, es wird mir verdammt schwerfallen, wieder in einer möblierten Bude und ohne unsere Jungen.«
»Nun«, sagte sie und konnte sogar lächeln, »ich glaube nicht, daß Irma gerne in einem möblierten Zimmer wohnen möchte, und eigene Jungen sind immer noch besser als ›unsere Jungen‹ …«
Da sah sie ihn rot werden, so rot, wie ein junger Mann im Jahre 1923 bei einer solchen Bemerkung eigentlich gar nicht werden durfte, und beinahe freute sie sich schon, als er aufstand und sagte: »Red bloß keinen Quatsch, Tutti! Ausgerechnet Irma! Vergiß nicht: wegen Familientrauer geschlossen!«
»Lügner! Wegen einer Familienfeier!«
»Na, so eine Feier wäre doch wie Trauer …«
14
In den zwei Wochen, die Erich Hackendahl zum Abbruch seiner Beziehungen in Berlin brauchte, überlegte er immer wieder,
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