Der eiserne Gustav
das ist sie nun schon lange nicht mehr. Sie sitzt in einer Kneipe am Alexanderplatz, heute ist ihr Arbeiten und Geldverdienen unwichtig. Sie hat die Notiz in der Zeitung gelesen, sie war am Vormittag unter den Neugierigen am Zeitungshaus. Sie hat sich ein paar Postkarten durch einen Jungen kaufen lassen. »Der älteste Droschkenkutscher von Berlin … Gustav Hackendahl, genannt der eiserne Gustav … Berlin – Paris – Berlin …«
Dann ist sie der Droschke bis zum Roten Haus gefolgt, sie hat das Autohupenständchen gehört; sie ist der Droschkeweiter nachgegangen bis dort, wo sich die Musikkapelle von ihr trennte. Bis dort, wo sie ihr im Trabe entschwand …
Der Vater hat sie nicht gesehen, sie aber hat den Vater gesehen. Es ist etwas in ihr aufgeflammt, etwas wie Begeisterung, wie Stolz und Vertrauen. Etwas wie: Ich bin vor die Hunde gegangen, aber der Alte lebt noch. Der Alte ist unverwüstlich, er reißt uns alle heraus …!
Gott, wie er da auf dem Bock saß, mit seinem rotblondgrauen Vollbart, wie er gelacht hat, wie er mit dem jungen Herrn Witze gerissen hat, wie er seine Ansichtskarten verkauft hat, wie er die Zügel in die Hand nahm, und der Braune ging sofort los – nicht umzubringen, unverwüstlich!
Er reißt uns alle heraus …
Irgend so was, keine Entschuldigung für sie, kein Freipaß, nichts derart. Mit ihr ist es weit gekommen, tief gekommen, sie ist fast nichts mehr, sie ist verbraucht, alle. Ein paar Monate noch, dann kommt Eugen aus dem Zet, sie sehnt den Tag, vor dem sie zittert, herbei. Sie wird an der Tür stehen, an der Zuchthaustüre zu Brandenburg an der Havel, hoffentlich duldet er sie!
Sie denkt daran, daß er blind ist, und sie denkt daran, wie sie aussieht. Sie hofft nicht, ihn betrügen zu können; trotz seiner Blindheit wird er spüren, daß sie kein Geschäft mehr ist, daß sie zu tun hat, sich allein zu ernähren. Aber sie hofft, er wird sie trotzdem annehmen. Er wird sie schon irgendwie verwerten, ihm wird etwas einfallen, was er sogar noch aus ihr machen kann – bis sie ganz wertlos geworden ist.
Das alles ist nicht so wichtig – so oder so, es dauert nicht mehr lange. Aber sie hat es doch noch erlebt, daß es trotzdem weitergeht mit dem Leben und mit den Hackendahls. Es ist ein tröstliches Gefühl, daß der Stamm noch lebt und grünt, wenn auch der Ast zerbrochen wurde.
Später kommt ein Mann an ihren Tisch, heute ist es ihr nicht recht. Aber sie ist kein freier Mensch. Sie darf wegen des Wirtes den Gast nicht vor den Kopf stoßen, sie hat eine kleine Schuld beim Wirt.
Der Mann gibt einen Likör und ein Bier für sie aus, er gibt noch mal was zu trinken für sie aus. Er möchte sie gerne in Schwung bringen, er selber ist schon mächtig in Schwung. Aber es ist weggeworfenes Geld, mit der ist nichts los. Sie zeigt ihm eine Karte. »Das ist mein Vater!« sagt sie stolz.
»Na, da haste ja Schwein gehabt«, sagt er und starrt blöde die Karte an. Er versteht nicht mehr so recht, was das soll, die Ansichtspostkarte und die Nutte …
»Fidel wollen wir sein!« schreit er. »Für det Jeld können wir doch ebensojut fidel wie traurig sind. Mensch, Budiker, schmeiß ’nen Jroschen ins Akkordion. Komm, Mädchen, wa tanzen …«
Und da sie noch immer die blöde Karte anstarrt, reißt er die Karte entzwei. Nun gibt es Geheul und Kratzen und Keilerei und noch mal Geheul und einen Schupo, der beide zur Wache nimmt.
Dies ist wiederum eine, die an den alten Hackendahl auf seiner Fahrt denkt. Aber eine große Hilfe ist sie auch nicht, das kann man nicht sagen. Vielleicht haben ihre Gedanken es gemacht, daß er beim Einfahren in die Stadt zu den hohen, düsteren Wänden emporsieht. Aber an Eugen Bast, diese Art Schwiegersohn, denkt er nicht.
Ein Krankenhaus, überlegt er. Oder ein Kittchen. Det die hier in det Kaff so’n großet Kittchen brauchen. Na, wer weeß …! Allet schon dunkel. Ick muß machen, det ick in de Stadt komme, sonst find ick keen Quartier for mir un Jrasmussen. Und es is doch noch vadammt maikühle. De Pfoten sind mir janz steif. Na, in Paris wird et wärmer sind …
Er fährt weiter.
Aber noch einer denkt an ihn; und der denkt wirklich mit aller Intensität an den alten Hackendahl, der wünscht ihm nur Gutes!
Der junge Grundeis hätte schon um fünf Uhr nach Haus gehen können, sein Artikel war längst abgesetzt und gematert. Er hatte auch schon den Bürstenabzug gelesen, undnatürlich war er genauso verstümmelt, wie man dies von der Ahnungslosigkeit
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