Der Eiserne König
zu finden.
»Seltsam, dass die Gänse in diesem Jahr so früh nach Süden ziehen«, sagte Kunz, als ein Schwarm über sie hinwegflog. »Aber im Gegensatz zu uns kennen sie wenigstens ihr Ziel.«
»Ja. Diese Suche geht mir allmählich auf die Nerven«, murrte Sneewitt. »Unser sogenannter Anführer hat keinen Plan. Wir sollten ihn absetzen und Hänschenklein aus ihm machen.«
»Lasst ihn in Ruhe«, sagte Sanne leise. »Ihr habt doch gehört, was er erzählt hat. Er ist eine Waise, seine Freunde sind tot, und er war kürzlich krank.«
»Na, und?«, erwiderte Sneewitt spitz. »Ich lag lange scheintot im Sarg. Dann hat mich ein Königssohn erlöst und geheiratet, der sich als der erbärmlichste Haufen Dreck entpuppt hat, den ich je unter einen Teppich gekehrt habe.«
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Hans, der nur die Hälfte des Gesprächs mitbekommen hatte.
»Ich habe ihn verlassen. Er ist gestorben.«
»Eines natürlichen Todes, wie ich hoffe?«, fragte Kunz mit gespieltem Argwohn.
»Selbstverfreilich«, erwiderte Sneewitt. »Er wurde von einer eifersüchtigen Geliebten erdolcht. Natürlicher geht es nicht.« Dann fragte sie Hans: »Mal ganz ehrlich – warum möchtest du das Mädchen finden? Um den Tod deiner Freunde zu rächen?«
»Nein«, sagte er. »Meine Kameraden wollten sie quälen. Sie hat sich nur gewehrt.« Er verstummte. Schließlich murmelte er: »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ich in diese Suche hineingeschlittert bin …«
»Die mütterliche Muhme, die bezaubernde Barbera – alles vergessen?«, spottete Sneewitt. »Sie haben dich bezirzt und überredet. Und sie hatten leichtes Spiel mit einem so blutjungen Bürschchen.«
Hans senkte zerknirscht den Blick.
»Lass ihn endlich in Ruhe«, sagte Sanne erbost. »Wissen
wir
etwa, warum wir ihn begleiten?«
»Ta-ta!«, rief Kunz, der sich in den Steigbügeln aufrichtete und eine Hand auf sein Herz legte. »Als Buße für Rauferei, Hurerei, Sauferei und manches andere Allerlei!«
»Nicht zu vergessen das Furzen an heiligen Orten«, ergänzte Sneewitt.
»Na, und? Das war doch Pillepalle«, murrte Kunz. »Wir hatten vorher Erbsensuppe gegessen. Trotzdem haben uns die weisen Weiber zu dieser sinnlosen Suche verdonnert.«
»Seht mal«, sagte Sanne und zeigte nach oben. »Da sind diese sieben Raben. Wie oft haben wir sie schon gesehen?«
»Sehr oft. Aber was gehen sie uns an?« Sneewitt trieb ihr Pferd an. »Da ist ein Kreuzweg«, rief sie.
Sie trabten weiter. Auf den Feldern wuchs das Getreide aus, denn niemand hatte es geerntet. Vögel saßen wie alte Freunde auf den Schultern der Scheuchen und ließen sich nicht einmal von den Reitern stören.
Der Wegweiser am Kreuzweg war unleserlich. An seinem Pfahl lehnte ein zerlumpter, stoppelbärtiger Mann, der einen Sack über der Schulter trug. »Heda, Reisende!«, rief er.
Die vier Gefährten zügelten ihre Kaltblüter.
»Schöne Tiere«, sagte der Mann bewundernd. »Wohin seid ihr unterwegs?«
»Was geht dich das an, du Strolch?«, blaffte Sneewitt. »Und glotz mich nicht so an.«
»Schöne Frauen«, sagte der Mann. Er holte einen Apfel aus der Jacke. Bevor er hineinbiss, fragte er: »Könnt ihr mich ein Stück Wegs mitnehmen?«
Beim Anblick des Apfels erstarrte Sneewitt im Sattel. »Weg damit!«, schrie sie.
Der Mann sah erstaunt zu ihr auf. »Mit dem Apfel?«, fragte er lachend. »Unsinn. Obst ist gesund.« Er wollte hineinbeißen, aber ein Pfeil fegte den Apfel von seinen Lippen. Der Mann starrte erst seine Finger und dann Sneewitt an, die den Bogen senkte.
»Famoser Schuss«, sagte Kunz. »Stellt euch vor, er hätte jetzt keine Nase mehr.«
»Ich
hasse
Äpfel«, zischte Sneewitt mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Mann starrte sie immer noch an. Und da mit dieser Frau, die Äpfel hasste, offensichtlich nicht gut Kirschen essen war, zwirbelte er den blonden Schnurrbart und sagte: »Wohl wahr, ein famoser Schuss. Ich heiße Hardt. Sehr angenehm.«
»Du hast wenig Gepäck«, sagte Hans.
»Ich brauche nicht viel. Ich bin Drechsler und suche Arbeit. Leider faulenzen die Meister nur noch, und ich besitze keinen Goldesel.« Er betrachtete verschmitzt seinen Sack.
Hans lehnte die Unterarme auf den Sattelknauf. »Ich suche ein Mädchen«, sagte er.
»Welcher Mann tut das nicht?«, erwiderte Hardt.
»Nun … wir suchen dieses Mädchen aus einem besonderen Grund.«
»Ist sie besonders schön?«
»Sie hat grüne Augen, honigfarbenes Haar, Sommersprossen und … ein rätselhaftes
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