Der Eiserne König
Insekten. »Auch die Ewigkeit hat ein Ende«, sagte das Wesen. »Ihr steter Fluss stockt, sie gerinnt zu Zeit. Geist wird zu Fleisch, und das Fleisch ist endlich. Meine Zeit läuft ab, mein Fleisch wird sterben.«
»Nein«, erwiderte Maleen sanft und fest zugleich. »Du wirst leben, weil der Eiserne König scheitern wird. Wir werden ihn besiegen und für immer in sein Grab verbannen.«
Aber das Wesen spürte, dass ihre Zuversicht nicht echt war. »Er war schon für immer verbannt«, flüsterte es. »Ein Pflock aus meinem Holz steckte in seinem Herzen, aber nun ist er aus dem Tod in das Leben übergegangen, so wie ich vom Leben in den Tod übergehen werde.«
Ein Schweigen trat ein, tief und weit wie die See, die Maleen nie gesehen hatte. In der Leere schienen Wellen zu rauschen. Maleen suchte vergeblich nach aufmunternden Worten. Ihre Sprachlosigkeit war die eines Menschen, der angesichts eines unabwendbaren, furchtbaren Schicksals verstummte, und sie begriff, dass Worte nichts bewirkten. Nur Taten halfen. Wäre dies Wesen ein warmes, lebendiges Geschöpf gewesen, dann hätte sie es in den Arm nehmen und streicheln können. Aber wie sollte sie die Esche auf diese Art trösten, zumal die grüne Kraft immer schwächer wurde?
»Kehr um«, sagte die Stimme. »Du kannst mir nicht helfen. Ich muss vergehen wie alles andere auch. Aber Menschen und Tiere brauchen keine Götter. Sie sind stark genug, um es allein zu schaffen – wenn sie nur wollen und Einsicht in sich selbst zeigen.«
Maleen war verzweifelt. Das Rauschen wurde lauter, es klang wie ein Sturm. Sie kämpfte gegen einen Sog nach außen an. »Du darfst nicht aufgeben«, rief sie. »Wir brauchen dich.«
»Oh, gewiss«, erwiderte das Wesen mit einer Stimme, die an einen bitterkalten Wintertag erinnerte. »
Ihr
braucht mich. Aber ich brauche
euch
nicht. Ich lasse euch los, und ihr müsst mich loslassen. Meine Zeit neigt sich dem Ende zu. Wenn ihr nur an euch selbst denkt, müsst ihr euch auch selbst helfen.«
Maleen wollte etwas erwidern, aber ein eisiger, wie aus dem Nichts kommender Windstoß wirbelte sie aus sich hinaus. Sie hatte das Gefühl zu stürzen – vom Gipfel bis in das Tal. Der Aufprall tat so weh, dass sie aufschrie.
Als der Schrei in der Grotte gellte, sprang die auf einem Ast wachende Eichhörnchendame mit zwei Sätzen zu Maleen, die umgekippt war und eine Weile benommen am Boden lag. Die Eichhörnchendame streichelte ihre feuchte Stirn.
»Ich bin die Hüterin der Esche«, flüsterte Maleen schließlich mit tränenerstickter Stimme, »aber die Esche braucht mich nicht. Ich kann ihr nicht helfen. Sie
will
keine Hilfe.«
»Unsinn«, fiepte die Eichhörnchendame. »Vielleicht hat sie schlechte Laune, weil sie die Nüsse nicht findet, die sie für den Winter versteckt hat. So etwas kann sehr ärgerlich sein. Ich kenne das.«
Maleen saß da, das Gesicht in den Händen vergraben. Die Esche ragte über ihr auf, stumm, unnahbar, todgeweiht. Das Laub raschelte, und manchmal löste sich ein Blatt. Der Baum war noch lange nicht kahl, aber Maleen kannte das Gesetz: So wie eine frisch gesetzte Pflanze Zeit brauchte, um Kraft zu sammeln und Wurzeln zu schlagen, bevor sie in die Höhe schoss, beschleunigte sich alles zum Ende hin – Welken und Sterben gingen rasch. Sie erhob sich und durchquerte das Wurzellabyrinth mit schleppenden Schritten, gefolgt von der Eichhörnchendame, die den Ernst der Lage langsam begriff. Vor dem heiligen Weiher blieb Maleen stehen. Das Wasser war schwarz wie der Nachthimmel, aber als der Grottenolm auftauchte, schienen Sterne darauf zu funkeln. Maleen sah in sein blindes Gesicht; dann sagte sie: »Die Esche will sich nicht helfen lassen. Sie will lieber … lieber sterben.« Tränen liefen über ihre sommersprossigen Wangen.
Der Grottenolm ließ die Kiemenbüschel flattern.
»Ist das nicht entsetzlich?«, fiepte das Eichhörnchen. »Nun sag doch etwas. Oder bist du nicht nur blind, sondern auch taubstumm?«
Zu Maleens Verblüffung schien der Olm zu lächeln – aber vielleicht war das nur eine Täuschung.
»Der Wille der Esche ist Gesetz«, sagte er.
»Dann können wir wirklich nichts tun?«, fragte Maleen.
»Das Wesen, das sich in der Esche verkörpert, ist Vater und Mutter von allem, was lebt«, erwiderte der Grottenolm. »Aber Eltern sterben. Dann sind die Kinder auf sich allein gestellt und müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Das ist der Lauf der Welt.«
»Ich will keine Waise sein«, schluchzte das
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