Der Eiserne König
Feinde johlten und höhnten. »Die Schlacht ist verloren. Wir müssen uns auf den Tod gefasst machen.«
Die Asche der Gefallenen flockte auf sie herab und bedeckte den Unkengrund wie mit Schnee.
Die Recken standen da, die Waffe zum Schlag erhoben, und regten sich nicht mehr.
»Was ist das?«, stieß Hans hervor.
»Ein Zauber des Eisernen Königs«, knurrte Rumpenstünz. Er wollte zurückweichen, aber die Karontiden umschlossen sie wie eine Mauer, bleckten die Hauer, hoben die Schwerter und grollten bedrohlich. Sneewitt fühlte sich klein und hilflos, aber sie riss sich zusammen und sah den Monstern, die gleich über sie herfallen würden, trotzig ins Gesicht.
Da schlugen auf dem Schlachtfeld Flammen in die Höhe, ein Schrei gellte aus Tausenden von Kehlen, und die Streitmacht wankte. Wesen der Wilden Jagd flogen zum Hügel, um ihrem Herrn Bericht zu erstatten. Der brüllte wutschnaubend, ohne den Blick vom Feuer lösen zu können, hinter dem sich das gegnerische Heer verbarg. Er vergaß die Gefährten für einen Moment.
»Ich schaffe es nicht«, flüsterte Helmdag. »Nimm den Pflock und befestige ihn an einem Pfeil.«
Sneewitt starrte ihn an. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was der Gograf meinte. Dann band sie den Eschenpflock im Schutz der Männer mit einem Lederband an ihren vorletzten Pfeil. Sie legte ihn auf und holte tief Luft, schätzte die Entfernung zum König ab – ein einziger Schuss; sie hatte nur diesen einen Schuss; er war ihre letzte Hoffnung. Als ihr die Verantwortung bewusst wurde, die sie auf sich lud, schien sie alle Kraft zu verlassen. Ihre Beine zitterten, ihr Atem ging hastig. Ringsumher knurrten Karontiden, stampften von einer Pranke auf die andere, warteten ungeduldig auf den Befehl zum Gemetzel.
Als sich eine Lücke zwischen den Ungeheuern auftat, vergaß Sneewitt alle Zweifel und jede Schwäche und riss den Bogen hoch.
Sie spannte die Sehne bis zum Äußersten.
Zielte kurz.
Und löste die Finger vom Pfeilschaft.
Maleen krümmte sich zusammen und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. Neben ihr hockten die Schemen von Sanne und der Muhme, tief in Trauer versunken. Sie merkte weder, dass die drei Stimmen verstummt waren, noch, dass der aus dem Nichts kommende Wind aufgefrischt war, noch, dass ein Licht wie das einer schneehellen Nacht aufschien. Sie horchte erst auf, als eine Kinderstimme erklang.
»Moderbart, Ochsensaft, Eberblut, Ziegenmilch, Fuchsurin.«
Maleen hob den Kopf, sah zu den Wurzeln.
»Und Tränen«, ergänzte die helle Stimme.
Hinter dem Wurzelgespinst war eine Gestalt zu erkennen – ein buckeliges Kind mit einem Körper, sowohl jung als auch alt, sowohl der eines Mädchens als auch der eines Jungen.
»Wer bist du?«, fragte Maleen.
»Ihr habt mich erschaffen«, erwiderte das Kind. »Durch Bart, Säfte und Tränen. Ich bin, was ihr in eurem Innersten seid – aufrecht und verkrüppelt, hilflos und mächtig zugleich. Und der Baum, zu dem ich wachse, wird auch ein Krüppel sein. Ich bin das Kind von Scheitern und Gelingen, von Niederlage und Sieg, von Trauer und Freude, von Schmerz und Glück, Spross und Bild aller Widersprüche, die ihr in eurem Leben erdulden müsst.«
»Du bist ein neuer Baum«, flüsterte Maleen. »Ich werde deine Hüterin sein.«
»Ich bin nicht die mächtige Esche. Ich bin nicht die Säule der Welt. Ich bin nur ein Krückstock.«
»Du musst uns helfen«, bat Maleen.
Das Wurzelgespinst wehte im Wind der Leere.
»Hilf uns«, flehte Maleen. »Die Schlacht ist fast verloren. Der Eiserne König triumphiert. Bitte!«
Das Kind erblasste. Es lachte leise. Dann rief es: »Möge ihn der Schlag treffen! Fünf Finger hat die Hand!«
Maleen sank verzweifelt in sich zusammen.
Der von den Flammen abgelenkte Eiserne König ahnte nichts von der Gefahr, aber Asseln und Spinnen erstarrten.
Im nächsten Moment schlug der Pfeil ein.
Er bohrte sich durch einen Spalt zwischen zwei Schuppen, durchdrang Kettenhemd und Wams. Der König wurde nach hinten geworfen, der Zügel entglitt ihm. Dann fiel er wieder nach vorn. Sein Kinn sank auf die Brünne, und er starrte den in seiner Brust steckenden Pfeil an.
Die Karontiden drehten sich nach ihm um.
Die Gefährten hielten den Atem an.
Der Eiserne König japste. Er wandte den Gefährten langsam das Gesicht zu; seine Augen brannten wie eisige Feuer. Dann riss er den Pfeil ruckartig heraus; aus der Brustwunde wölkte schwarzer Rauch.
»Oh, nein«, flüsterte Sneewitt. »Wo ist der
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