Der Eisplanet
Verhalten, das man als herausfordernd hätte auslegen können. Manchmal in Marys Begleitung, manchmal ohne sie, erkundete er die fünf Städte. Mit den Einschienenfahrzeugen fuhr er von Stadt zu Stadt und schlenderte harmlos durch die zentralen Hauptstraßen und Gärten. Er mochte die Stadtzentren, obwohl sie sich kaum voneinander unterschieden. Jedes besaß einen Park, ein Ratsgebäude, ein Hospital und ein Sozialzentrum. Ein Sozialzentrum umfaßte Gaststätten, Diskotheken, Sporteinrichtungen, eine Schwimmhalle, eine Bibliothek und einen Versammlungsraum. Viele Leute, so fand Idris heraus, verbrachten ihre gesamte Freizeit in den Sozialzentren, ähnlich wie auf der Erde die alten Römer den ganzen Tag in den Bädern zugebracht hatten. In jeder Stadt war das Sozialzentrum ein Forum für Klatsch.
In mancherlei Hinsicht hegte Idris Abneigung gegen die Minervier. In einer Beziehung jedoch erweckten sie seine Hochachtung. Sie besaßen ausnahmslos gute Manieren – in einem Grad, den er auf dem Mars oder der Erde niemals erlebt hatte. Alle kannten ihn. Sein Bild, seine Geschichte und seine Handlungen waren über ihre TV-Schirme gewandert und bestimmten offensichtlich viele ihrer Diskussionen. Doch sie respektierten ihn. Sie waren nicht zudringlich, unfreundlich oder verachtungsvoll. Grundsätzlich war es ihm möglich, sich frei zu bewegen, ohne daß man ihn anstarrte oder ihm nachblickte. Ihm war das sehr recht. Es war der einzige unangenehme Zwischenfall, als ein älterer Mann, offensichtlich betrunken, ihm anbot, sein altes Hirn aus dem neuen Körper zu entfernen und es in den Mülleimer zu werfen, wohin es gehöre.
Idris hörte sich die Beschimpfungen an, ließ sich aber nicht provozieren. Wahrscheinlich, so kalkulierte er, würden viele Minervier das gern tun. Aus ihrer Sicht war er ein undankbarer Lump. Man hatte ihm mit ungeheurem Aufwand das Leben geschenkt, und er hatte – in ihren Augen – bisher nur Ärger verursacht. Bevor der Mann tätlich werden konnte, führten einige Freunde ihn beiseite. Eine Frau entschuldigte sich eifrig bei Idris.
»Verzeihen Sie ihm, Kapitän Hamilton. Er hat nicht nur zuviel getrunken, er ist auch überreizt. Ich bin seine gegenwärtige Zeitpartnerin. Falls Sie eine Klage einreichen wollen, sein Name lautet Willem de Skun. Er ist Manfrius de Skuns Halbbruder.«
»Ich möchte keine Klage erheben. Ich verstehe seine Erregung. Wenn er sich beruhigt hat, sagen Sie ihm, daß ich es bedaure, ihn verletzt zu haben. Sein Bruder war ein großer Mann.«
»Sie sind für Manfrius de Skuns Tod verantwortlich«, sagte sie gelassen. »Durch Ihr Verhalten haben Sie sein Lebenswerk ruiniert.« Sie seufzte. »Aber wie hätten Sie, ein Mensch der Erde, die komplizierten politischen Verhältnisse unserer Gesellschaft begreifen können? Ich werde ihm ausrichten, daß Sie Bedauern empfinden. Er glaubte, wie wir alle, daß Sie nur den eigenen Interessen nachgehen.«
»Selbstverständlich gehe ich meinen persönlichen Interessen nach«, sagte Idris. »Aber noch mehr interessiere ich mich für das Schicksal der Menschheit. Sagen Sie Willem das. Sagen Sie ihm auch, daß Dr. de Skun mein Freund war und mein Verhalten verstand, ohne es immer zu billigen. Sagen Sie ihm, daß ich den Tod eines großen Menschen beklage.«
Seine Erkundung der fünf Städte und des Transportsystems war, obwohl Idris es so erscheinen lassen wollte, keine Sache aufs Geratewohl. Ihm war klar, daß man ihn beobachtete, daß alles, was er tat, weitergeleitet wurde – wahrscheinlich an Harlen Zebrov. Die TT-Partei erwartete, daß er einen schweren Fehler beging.
Er bewegte sich scheinbar ziellos, um seinen Verfolgern den tatsächlichen Zweck seiner Ausflüge zu verbergen. Er prägte sich die Anlage der fünf Städte genau ein. Gerne hätte er die Pläne, die er in seinem Kopf anfertigte, zu Papier gebracht. Aber das wäre zu gefährlich gewesen.
Die wichtigste Entdeckung machte er, als Mary sich zu ihm gesellte. Die fünf Städte bildeten ein grobes Fünfeck, und das Verbindungssystem verlief roh kreisförmig. Aber bei der Station Talbot City gab es eine Abzweigung, die er zuvor nie bemerkt oder vielleicht als Rangiertunnel abgetan hatte.
»Wäre es nicht herrlich«, sagte Mary, während sie auf einen Wagen warteten, »diesen Weg zu nehmen und die Amazonia bemannt und startbereit vorzufinden?«
»Wieso? Wohin führt dieser Tunnel?«
Sie war überrascht. »Zum Talbot Field. Ich dachte, du wüßtest es.«
Er lächelte.
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