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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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trieben die Gesichter vorüber, Töne, die ihre Melodie suchten, aber nicht fanden und wohl auch nicht finden würden, denn Melodie beinhaltete einen Begriff von Harmonie, von Ordnung und Bestimmung, den auf diese Stadt anzuwenden mir absurd erschien. Was die Tage füllte, war das Geräusch, das Flüstern einer abgespielten Schallplatte, auf der ferne Ahnungen von Klängen hallten, Echos aus den Archiven und Opern, genug, um zu wissen, was Melodie einst gewesen war, und genug, um mit einer unstillbaren Sehnsucht danach die Vorstellungen zu verlassen
    – Angst: So, wie es war, konnte man leben, wurde das Leben – erlaubt. Aber wer wußte, ob es so bleiben würde? Tintenhaft kroch die Unsicherheit durch die Ritzen und Fugen spröde gewordener Tage, schlich sich unter die Oberfläche der Dinge. Man vermochte in den Gesetzen einer Wohnung, aber kaum noch in denen des Gebäudes zu leben, in dem die Wohnung sich befand, und so hatte man das Gefühl, etwas schwer Greifbarem ausgesetzt zu sein, das keine Züge besaß, kein Gesicht, keine Gestalt, die man zum Ziel einer Verteidigung hätte nehmen, gegen die man sich hätte zur Wehr setzen können. Die Menschen kämpften, aber sie kämpften gegen Spiegelbilder; es schien mir, als ob sie bemerkten, daß es nichts half und sie sich aus Furcht vor den schleichenden Wandlungen auf die Verteidigung dessen verlegten, was sich mit ihren Mitteln verteidigen ließ: das, was sie sahen, was sie hatten und besaßen. Mir schien, daß sie immer bösartiger, besessener, irrsinniger vor Angst wurden, weil sie spüren mochten, daß das nicht genügte, und ihre selbstgesetzten Ordnungen mit Bollwerkenaus Gesetzen und Rückversicherungen umgaben, die sie wiederum allein ließen vor der Dunkelheit, denn es war so, als ob sie sich gegen das Untergehen eines Schiffes versicherten bei einem, der sich selbst mit auf dem Schiff befand, und nicht auf einem anderen, das retten konnte in der Not. Aber sie verdrängten: in der unausgesprochenen Hoffnung, daß es von selbst wieder besser werden würde
    J etzt das Rasseln des Verbandswagens, die Schwestern machen ihre Spätdienstrunde, sie könnten das Rad an diesem Vehikel, das noch aus Sauerbruchs Zeiten überliefert sein muß, einmal auswechseln lassen, es schlägt und donnert gegen die Aufhängung wie ein Steinmetzhammer auf den Krönel, eines der Geräusche, die uns den Ort ganz klarmachen, an dem wir sind, und ihn vollständig aufzurufen vermögen, wenn wir ihn verlassen haben, so daß wir ihn, hören wir dieses Geräusch nach Jahren und Jahrzehnten wieder, jäh vor uns sehen, vor uns haben, Hantierungen, Gerüche, die spezifische Atmosphäre: alles kehrt zurück, und wir wissen nicht, ob die Zeit, die uns von diesem Ort wegführte und trennte, wirklich vergangen ist, oder ob sie nicht nur ein Traum war, aus dem wir plötzlich, durch dieses Geräusch, erwacht sind
    – Kaltmeisters Stimme, die für mich im Widerspruch zu seinen feingeschnittenen Joseph-Conrad-Zügen stand, die Stimme eines Seebären – auch wenn Kaltmeister keiner war – stellt man sich dunkel, guttural, befehlsgewohnt vor; ich erwartete, daß sie ebenso rauh wirken müsse wie der kurzgeschorene weiße Vollbart; aber sie war leise, in einer farblosen Lage zwischen Tenor und Bariton, wie sie manche Nachrichtensprecher der BBC besaßen, die man, nach den Frauenstimmen, am besten versteht; eine leise, aber trennscharfe Stimme, kein brodelnderKapitänsbaß: Alcedo atthis. Besuchen Sie mich, wenn Sie mögen. Er gab mir die Adresse. Jost kam nicht mit
    – der alte Kaltmeister lebte in einem Haus an der Havel außerhalb des strudelnden und lärmenden Berlin. Ich stieg aus der S-Bahn und dachte an die Gegend, in der ich einst zur Schule gegangen war, in London, Richmond upon Thames, auch dort hatte es diese halb herabgelassenen Markisen vor den kleinen Läden gegeben, Sommerwärme, von Lüftchen und schläfrigen Schatten durchweht, ohne die Klebrigkeit, die sie in Berlin, in der immer hektischen Innenstadt, hatte. Der Wind quirlte die Ebereschenblätter zu Schaum, als ich an jenem Nachmittag langsam die Allee hinabging, nach den Nummern an den wenigen, vornehm hinter Hecken und knorrigen Bäumen verborgenen Häusern links und rechts forschend, den Zettel mit der Adresse in der Hand, und während ich noch überlegte, ob es eine gute Idee gewesen war, der Einladung des Professors gefolgt zu sein, hörte ich das butterige, beruhigende Geräusch von Wasser, das in eine Zinkgießkanne

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