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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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seinen Glanz prüft, bevor sie zur London School of Economics eilen wird, unauslöschlich ist die Vergangenheit in der Erinnerung, treibt wie ein aufgetauchtes Seerosenblatt in der Gegenwart, ist Gegenwart, wie Mauritz jetzt für mich Gegenwart ist, der langsam von der Treppe auf mich zukam, mir unablässig in die Augen sehend, es ist, als ob er jetzt die Hand aus der Tasche seiner weißen Leinenhose nähme und zum Gruß ausstreckte, mir seinen Namen nennte mit seiner heiseren und zugleich kühlen Stimme, die ich von nun an oft in meinen Träumen hören würde; ich schüttelte meine Hand aus, als er sich umwandte und die Diele entlang vor uns ins Wohnzimmer ging, versuchte, kein allzu schmerzverzerrtes Gesicht zu machen
    – Philosophie. Aha. Der alte Kaltmeister blies geruhsam den Rauch seiner Zigarre aus, neigte den Kopf nach hinten, ließ Rauchringe steigen, die im Halbdämmer des Zimmers wie in einem mäßig beleuchteten Aquarium aufschwammen, durch die herabgelassenen Jalousien einfallendes Licht durchtauchten, unter der hohen Decke, an der ein ausgreifender Leuchter in Gestalt eines Oktopus hing, zerflatterten. Dann sind Sie also auch ein geheimer Baumeister. Die Kunst desStaatsbaus scheint mir eine der schwierigsten Künste zu sein, die das Menschenwesen kennt. Ordnung und Unordnung, diese zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt, sagt Valéry. Womöglich ist die Unordnung gefährlicher? Jedenfalls scheint mir heute einiges dafür zu sprechen ... Möchten Sie noch einen Tee, Herr Ritter?
    – in Kaltmeisters Haus war es eine doppelte Stille, die ich als eine doppelte nicht sofort erfaßte: es gab die Stille der Bücher, die in ernsten braunen Lederreihen in der Diele und im Wohnzimmer auf durchgebogenen Schäften standen; die Stille der Gelehrtenbüsten, deren Gips pfefferminzplätzchenweiß im Dämmer der Bücherregale gloste, ich erkannte das nachdenklich-freundlich blickende Schimpansenantlitz Darwins, Humboldts Kopf mit Seesternfrisur und leicht bitterem Lächeln, enorm dimensioniert thronte Goethes Haupt in der Mitte, jupiterhaft stilisiert, die blinden weißen Augen in die Ferne gerichtet; die Stille der Zeichnungen und farbigen Drucke an den Wänden: Albrecht Dürers Hirschkäfer, auf die Länge eines menschlichen Fußes vergrößert; Tafeln, die, wie mir der alte Kaltmeister erklärte, aus dem Linnéschen Ordnungssystem stammten; aquarellierte Kupferstiche von Zitrusfrüchten und Schmarotzerpflanzen, von denen mich besonders der fleischrote Blütenschwamm einer Rafflesie – in der Realität halbmetergroß, sagte Kaltmeister – beeindruckte, dem der Künstler eine aus lappig-schwelender Trägheit und Gefährlichkeit gemischte Aura zu geben vermocht hatte; Stille, die aus den Schaukästen voller Schmetterlinge und Bienen sprach, die zwischen den Fenstern und neben der mächtigen Standuhr angebracht waren, auf deren Zifferscheibe sich das Licht zu einem metallisch leuchtenden Auge mit pflaumenfarbenen Sprengseln bündelte
    – Mauritz, den ich im Halbdunkel des Zimmers nurundeutlich sah, ich höre seine etwas näselnde, ein wenig zu sanfte, eindringliche Stimme, sehe mich ihm gegenüber in seiner peinlich sauber aufgeräumten Kammer, die er in Kaltmeisters Haus, unter dem Dach, zur Verfügung hatte, hier war er aufgewachsen, inmitten von schwarzweißen Segelschiff- und Polar-Fotografien, die in millimetergenau gleichen Abständen zueinander hingen, der Seeadler, die Niobe, die Preussen, das Ledergesicht Amundsens mit den eishellen Augen, eine kahle weiße Kammer, die, mit Ausnahme eines Regals voller Abenteuer- und Simenon-Bücher – magst du ihn, fragte er und strich vorsichtig über die Buchrücken, er ist ein redresseur des destins –, in nichts an das Kind erinnerte, das Mauritz auch einmal gewesen sein mußte; es gab ein stählernes Feldbett, einen einfachen Holztisch beim Fenster, einen Stuhl und an der Wand darüber ein Brett mit militärhistorischen und philosophischen Schriften, Machiavellis Fürst, Campanellas Sonnenstaat, Bacons Nova Atlantis darunter; Mauritz’ kurzgeschorenes leopardengelbes Haar, das seinem Kopf eine schwer zu fassende Eleganz gab, glomm in der Dämmerung, ein Pharaonenkopf, dachte ich, er erinnert mich an Echnaton; er sagte: Krieg, Wiggo, schau dich um: Die Architekten brauchen den Krieg, denn die Städte sind verstopft, es entsteht nichts Neues mehr, Architektur ist heute die Wissenschaft von der Umnutzung, vom Rückbau und Umbau; aber, sei ehrlich, haben sie

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