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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Wut, daß er mich so erniedrigte. Kaum hatte ich das gesagt, verzerrte sich sein Gesicht zu einer Grimasse aus Schmerz, Bitternis, Selbstmitleid, die Empfindungen wechselten einander rasch ab. Ich lachte triumphierend, ich spürte, daß ich ihn tief getroffen hatte, wollte noch nachstoßen, aber Mauritz sah mich in diesem Augenblick voller Furcht an, und das erschütterte mich so, daß ich nicht mehr sprechen konnte
    – jeder von uns tötet
    D orothea hat mir Blumen mitgebracht, die alten weggeworfen; sie sagt nie, ob sie einen freien Tag hat oder ob sie in der Hautklinik später anfangen, so daß sie vor der Visite, hier ist sie gerade vorüber, noch auf ein paar Minuten vorbeischauen kann. Sie läßt sich meine Wunden zeigen, sofern sie nicht verbunden sind, was die Schwestern, wenn sie es sehen, meist die Brauen heben und die schnippische Bemerkung machen läßt, daß schon die hiesigen Doktoren draufgeschaut hätten und es durch dauerndes Aufmachen auch nicht schneller heile. Reverdin-Plastik, sagt sie, Meshgraft, und erklärt mir, warum ich, wenn sie eine frische Transplantation vorgenommen haben, für eine Weile wieder nicht aufstehen darf. Sie begutachtet die Entnahmestellen für die Hauttransplantate an meinem Oberschenkel, wo ich wie ein Sack Kartoffeln zusammengeflickt bin. Dorothea mißfallen die Fleischernähte, was mich jedesmal, wenn sie den Kopf schüttelt, aufs neue verstimmt, mir fällt Jeanne ein und die wie Ameisenschritte feinen, regelmäßigen Stiche auf meinen weißen Leinenhemden. Hast du noch Fieber? Ich schüttele den Kopf, aber sie glaubt mir nicht und meint, ich solle ausreichend trinken, das sei wichtig. Und diskutiere nicht jede Maßnahme, das tust du doch bestimmt, so wie ich dich kenne. Nimmst du die Antibiotika regelmäßig oder versteckst du sie und wirfst sie nachts ins Klo? Ich sehe sie an, ein Lächeln huscht über ihre Züge. Ihr Haar ist etwas heller als meines, sie trägt es mit einem Band zugebunden und nach vorn über die Schulter fallend, wie in manchen Filmen Meryl Streep; meine Schwester ist schön, und daß sie erschrocken ist, als ich ihre Hand nahm und küßte, daß sie ihren Arm im ersten Moment angespannt hat und zurückziehen wollte, kann ich verstehen, es waren die Lippen eines Menschen, der einen anderen Menschen getötet hat, die sie berührten; es lag nicht daran, daß es klopfte und gleich darauf Jost eintrat, – Was sagtder Anwalt, fragte sie hastig, schon im Gehen, Jost zunickend, dessen Pieper zu zetern begann. Ich komme noch mal wieder, wenn ich Schluß habe, oder vielleicht besser morgen, ich hab noch ein Gutachten, das kann lange dauern, sagte sie, und ich hatte mich noch nicht einmal für die Blumen bedankt
    – ich dachte, es würde Regen geben, denn das Haus schien zu vibrieren, ganz leicht; Konturen, die atmeten; aber die Luft schmeckte nur brackig, vom See her, nicht feucht. Ich dachte an Berlin und daß es jetzt die Zeit war, wo das Licht in den Fenstern kletterte und die Straßen im Prenzlauer Berg etwas Fließendes bekamen, schmelzend von Hitze, die sie aus den Häusern zogen, deren Pellagra-Haut nun von der harten Sonne in Ruhe gelassen wurde und etwas in die Dämmerung zu geben schien, das sie leichter werden ließ. Bars und Cafés, Gelächter und Insektizidgeruch aus fernen trockenen Gärten ohne Himbeerschatten; Jukeboxes, aus denen Musik schwamm; Geräusche, plasmatisch und einflüsternd, daß man die wichtigsten Ziele erreicht habe und nun glücklich sein müsse, aber man will nichts anderes als weggehen in diesen Augenblicken und niemals wiederkommen. Abende, an denen ich Dorothea etwas geschenkt hatte, einfach so, und ohne sie zu sehen. Abende, wo Jost die Schultern gegen die Verspannungen rollte, den Kopf zurücklehnte im Flackerschein eines Windlichts, und tief ausatmete, als wäre er gleichzeitig ratlos und müde und zufrieden. Das war die Stunde, in der den Dingen eine Haut aus Geheimnis wuchs und man selbst in einer Zahnarztpraxis im Halbdämmer, unterbrochen von in regelmäßigen Abständen aufwachsenden und abdrehenden Scheinwerferlichtern, die aufgereihte Bohrer, leere Spülgläser und den schwarzen Behandlungsstuhl streiften, an Gespenster glauben konnte. Manuelas Freunde lachten und meinten, wir sollten nicht soviel reden, es sei eine schöne Nacht, wir sollten uns lieberamüsieren, nichts kehre wieder, keine einzige Sekunde. Tack, tack! rief einer der jungen Männer augenzwinkernd und skandierte mit dem überlangen Nagel seines

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