Der Engel Esmeralda
Seelen, auf die keiner Anspruch erhebt. Grace Fahey saß am Steuer, eine junge Nonne in weltlicher Kleidung. Alle Nonnen des Klosters trugen schlichte Blusen und Röcke, außer Schwester Edgar, die mit Erlaubnis des Mutterhauses die alten Dinge mit den geheimnisvollen Namen anzog, Wimpel, Zingulum, Skapulier. Sie wusste, es zirkulierten Geschichten aus ihrer Vergangenheit, wie sie den großperligen Rosenkranz herumzuwirbeln und den Schülern das eiserne Kruzifix über den Mund zu ziehen pflegte. Damals waren die Dinge einfacher. Die Kleidung war vielschichtig, das Leben nicht. Aber Edgar hatte bereits vor Jahren damit aufgehört, Kinder zu schlagen, schonbevor sie zu alt zum Unterrichten war. Sie wusste, die anderen Nonnen tuschelten genüsslich über ihre Strenge, voller Scham und Ehrfurcht zugleich. Welch offene Zurschaustellung von Macht in einer vogelzarten, nach Kernseife riechenden Frau. Edgar hatte damit aufgehört, Kinder zu schlagen, als sich das Viertel veränderte und die Gesichter ihrer Schüler dunkler wurden. Aller gerechte Zorn wich damals aus ihrer Seele. Wie konnte sie ein Kind schlagen, das nicht war wie sie?
»Die alte Mühle muss mal durchgecheckt werden«, sagte Gracie. »Hörst du das Geräusch?«
»Ismael soll mal nachgucken.«
»Ku-ku-ku-ku.«
»Er ist der Fachmann.«
»Das kann ich selber. Ich brauche nur das richtige Werkzeug.«
»Ich höre überhaupt nichts«, sagte Edgar.
»Ku-ku-ku-ku? Das hörst du nicht?«
»Vielleicht werde ich taub.«
»Bis du taub wirst, Schwester, bin ich es längst.«
»Guck mal, wieder ein Engel an der Wand.«
Die beiden Frauen schauten auf ein großes Gelände von brachliegenden Grundstücken, voll jahrelang übereinandergeschichteter Ablagerungen – der Müll aus der Lebenszeit des Hauses, der Schutt aus der Bauzeit und die vandalisierten Autokadaver. Viele Zeitschichten übereinander in Form von Müll. Diese Gegend hieß im Polizeijargon Vogel, kurz für Vogelschutzgebiet, und in diesem Fall bezog sich der Begriff auf einen Zwickel Land, der aus der gesellschaftlichen Ordnung gedriftet war. Unkraut und Bäume wuchsen zwischen den weggeworfenen Dingen. Es gab Hunderotten, auch Falkenund Eulen wurden gesichtet. Arbeiter von der Stadt kamen in regelmäßigen Abständen, um Ausschachtungsarbeiten vorzunehmen, und standen, die Kapuzen ihrer Sweatshirts straff unter die Helme gezogen, vorsichtig neben den großen Erdmaschinen, den orangeschlammigen Baggern und Bulldozern, wie Infanteristen, die sich in der Nähe vorrückender Panzer zusammenkauern. Doch bald waren die Arbeiter wieder weg, so machten sie es immer und hinterließen halb ausgehobene Löcher, ausrangiertes Material, Styroporbecher, Peperonipizzas. Die Nonnen schauten sich all das an. Da gab es Schädlingskolonien, Krater, die mit Rohren, Armaturen und Rigips vollgepfropft waren. Es gab kleine Hügel aus aufgeschlitzten, von wuchernden Kletterpflanzen umrankten Reifen. Schüsse sangen bei Sonnenuntergang im Widerhall der niedrigen Wände demolierter Häuser. Die Nonnen saßen im Kleinbus und schauten. Am hinteren Ende des Geländes ragte ein einsamer Bau empor, ein verlassenes Mietshaus mit einer freiliegenden Wand, an die früher ein anderes Gebäude gegrenzt hatte. An diese Mauer sprühten Ismael Muñoz und seine Mannschaft von Graffitimalern jedes Mal einen Gedenkengel, wenn im Viertel ein Kind gestorben war. Engel in Blau und Rosa bedeckten etwa die Hälfte der hohen Fläche. Name und Alter des Kindes standen in Blockschrift in Comicblasen unter jedem Engel, manchmal mit der Todesursache oder persönlichen Anmerkungen der Familienmitglieder, und während der Kleinbus näher ranfuhr, konnte Edgar erkennen, was aufgeführt war, Tbc, Aids, Prügeleien, Schüsse aus vorbeifahrenden Wagen, Blutkrankheiten, Masern, allgemeine Verwahrlosung und nach der Geburt ausgesetzt – in Müllcontainer geworfen, im Auto vergessen, Heiligabend in Mülltüte liegen gelassen.
»Ichwünschte, sie würden endlich mit den Engeln aufhören«, sagte Gracie. »Das ist unglaublich schlechter Geschmack. Für Engel geht man in eine Kirche aus dem vierzehnten Jahrhundert. Diese Mauer propagiert all das, was wir durch unsere Arbeit verändern wollen. Ismael sollte sich mal was Positives zum Hervorheben suchen. Die Stadthäuser, die Gemeindegärten, die die Leute anlegen. Die Stadthäuser sind schön, die sind sauber. Brauchst bloß um die Ecke zu biegen und siehst ganz normale Leute zur Arbeit gehen, zur Schule.
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