Der Engel Esmeralda
Geschäfte und Kirchen.«
»Die Titanic-Power-Baptistenkirche.«
»Macht doch nichts – Hauptsache, eine Kirche. Die Gegend ist voller Kirchen. Anständige, arbeitende Leute. Wenn Ismael eine Mauer bemalen will, sollte er diese Menschen feiern. Positives Denken.«
Edgar lachte im Innern ihres Schädels. Gerade das Drama der Engel gab ihr das Gefühl, hierher zu gehören, der schreckliche Tod, den diese Engel versinnbildlichten, und die Gefahr, die Ismaels Sprayer in Kauf nahmen, um ihre Graffiti zu schaffen. An der Gedenkmauer fehlten Feuerleitern oder Fenster, und die Schreiber mussten sich an festgezurrten Seilen vom Dach herunterlassen oder schwankten auf zusammengeschusterten Gerüsten, wenn sie einen Engel auf den unteren Rängen malten. Ismael plante als Pendant dazu eine Wand für tote Graffitikünstler und ließ immer sein verrottetes Lächeln aufblitzen, wenn er davon sprach.
»Und er nimmt Rosa für Mädchen und Blau für Jungen. Da rollen sich einem die Fußnägel hoch.«
»Es gibt auch noch andere Farben«, sagte Edgar.
»Klar, die Spruchbänder, die die Engel hochhalten. Breite Bänderam Himmel. Man möchte am liebsten auf die Straße kotzen.«
Sie hielten am Mönchskloster, um Lebensmittel zur Verteilung an die Bedürftigen abzuholen. Das Mönchskloster war ein alter Ziegelbau, eingekeilt zwischen verbarrikadierten Mietshäusern. Drei Mönche in grauen Kutten mit Seilen als Gürtel arbeiteten in einem Vorraum, machten die Ration des Tages fertig. Grace, Edgar und Bruder Mike trugen die Plastiktüten zum Kleinbus nach draußen. Mike war ein ehemaliger Feuerwehrmann mit einem Bart aus Stahlwolle und einem fipsigen Pferdeschwanz. Von vorne sah er wie ein ganz anderer Typ aus als von hinten. Als die Nonnen zum ersten Mal gekommen waren, hatte er angeboten, ihnen als Führer zu dienen, als schützende Begleitung, aber Edgar hatte das entschieden abgelehnt. Sie war überzeugt, dass ihr Habit und ihr Schleier Sicherheit genug boten. Jenseits dieser Straßen der South Bronx mochten die Leute sie ansehen und meinen, sie sei ein wunderliches Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Aber im Inneren dieser Trümmerwüste war sie ein natürlicher Anblick, sie und die Mönche in ihren Kutten. Gab es passendere Gestalten als sie, kostümiert für Ratten und Pest?
Edgar sah die Mönche gern auf der Straße. Sie besuchten die Bettlägerigen, betrieben ein Obdachlosenasyl, sammelten Essen für die Hungernden. Und sie waren Männer an einem Ort, wo wenige Männer übrig geblieben waren. Teenagerjungen hordenweise, bewaffnete Drogendealer – so sahen die Männer der nächstgelegenen Straßen aus. Sie wusste nicht, wohin die anderen verschwunden waren, die Väter, ob sie bei Zweit- oder Drittfamilien lebten, sich in Pensionen verkrochen, unter Autobahnen in Kühlschrankkartons schliefen oderauf dem Armesünderfriedhof von Hart Island begraben lagen.
»Ich zähle Pflanzenarten«, sagte Bruder Mike. »Ich habe ein Buch, das ich mit ins Gelände nehme.«
»Du hältst dich mehr am Rand, stimmt’s?«, fragte Gracie.
»Im Gelände bin ich bekannt.«
»Wer kennt dich? Die Hunde vielleicht? Da gibt es tollwütige Hunde, Mike.«
»Ich bin Franziskaner, ja? Auf meinem Zeigefinger landen Vögel.«
»Bleib am Rand«, sagte sie zu ihm.
»Da ist ein Mädchen, das ich immer wieder sehe, vielleicht zwölf Jahre alt, die Kleine rennt weg, wenn ich mit ihr zu reden versuche. Ich hab den Eindruck, die lebt in den Ruinen. Hör dich mal um.«
»Wird gemacht«, sagte Gracie.
Als der Kleinbus beladen war, fuhren sie zurück zum Vogel, um ihre Angelegenheiten mit Ismael zu regeln und ein paar Leute aus seiner Mannschaft abzuholen, die beim Verteilen des Essens helfen sollten. Was für Angelegenheiten hatten sie mit ihm zu regeln? Sie gaben ihm Listen, auf denen im Detail die Standorte von Autowracks in der North Bronx standen, vor allem am Bronx River, das war ein wichtiger Schrottplatz für gestohlene, abgenudelte, benzinabgesaugte, halb ausgeschlachtete räudige Vehikel. Ismael schickte seine Mannschaft hin, um die Autokarosserien und alle eventuell noch intakten Teile zu retten. Sie benutzten einen kleinen Sattelschlepper mit unzuverlässiger Winde, ein Motiv aus der Graffitiserie Souls in Hell auf Fahrerhaus, Dach und Schmutzfängern. Die Autowracks kamen zur Inspektion und Preisfestsetzung durch Ismael hierher und wurden dann an eineSchrottfirma im hintersten Brooklyn geliefert. Manchmal lagen vierzig oder fünfzig
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