Der Engel Esmeralda
Unsere Notebooks bestanden aus blätterbaren Papierseiten.
Ich versuchte, mit dem Mädchen auf der anderen Tischseite Blickkontakt aufzunehmen. Wir saßen uns zum ersten Mal gegenüber, doch sie schaute unentwegt auf ihre Notizen, ihre Hände, vielleicht die Holzmaserung an der Tischkante. Ich sagte mir, sie wende den Blick sicher nicht von mir, sondern von Ilgauskas ab.
»F und Nicht-F«, sagte er.
Er schüchterte sie ein, die stumpfe Wucht des Mannes, massiger Körper, starke Stimme, Stakkatohusten, selbst der alte dunkle Anzug, den er ungebügelt in jeder Seminarstunde trug, mit offenem Hemdkragen und hervorkräuselndem Brusthaar. Er gebrauchte deutsche und lateinische Begriffe, ohnesie zu definieren. Ich versuchte mich in die Sichtachse des Mädchens zu drängen, indem ich mich zusammenkauerte und hochlugte. Wir hörten ernsthaft zu, wir alle, in der Hoffnung, zu verstehen und über das Bedürfnis zu verstehen hinauszuwachsen.
Manchmal hustete er in die Hand, manchmal auf den Tisch, und wir stellten uns mikroskopisch kleine Lebensformen vor, die auf die Tischplatte spritzten und als Querschläger in unseren Einatmungsraum prallten. Wer ihm am nächsten saß, duckte sich mit einem Zucken weg, das zugleich ein halb entschuldigendes Lächeln war. Die Schultern des schüchternen Mädchens bebten, obwohl es weit genug entfernt saß. Wir erwarteten nicht, dass Ilgauskas sich entschuldigte. Er war Ilgauskas. Wir waren schuld, weil wir da waren und zu Zeugen des Hustens wurden oder weil wir dessen seismischem Maßstab nicht genügten oder aus anderen Gründen, die uns noch nicht bekannt waren.
»Können wir diese Frage stellen?«, sagte er.
Wir warteten auf die Frage. Wir fragten uns, ob die Frage, die er stellte, die Frage war, die zu stellen wir von ihm erwarteten. Mit anderen Worten, konnte er die Frage stellen, die er gerade stellte? Das war kein Trick, kein Spiel oder ein logisches Puzzle. So etwas machte Ilgauskas nicht. Wir saßen da und warteten. Er starrte auf die Wand am hinteren Ende des Raums.
Es war ein gutes Gefühl, draußen in Wind und Wetter zu sein, im winterlichen Biss des herannahenden Schnees. Ich ging eine Straße mit älteren Häusern entlang, von denen einige dringend renoviert werden mussten, traurige, schöne, mit einem Erker hier, einer geschwungenen Veranda dort, als erum die Ecke bog und auf mich zukam, leicht gebückt, dieselbe Jacke, Gesicht fast in der Kapuze verschwunden. Er ging langsam, wie zuvor, Hände hinterm Rücken, wie zuvor, und er schien innezuhalten, als er mich erblickte, fast unmerklich, jetzt mit gesenktem Kopf und nicht ganz sicherem Schritt.
Sonst war niemand auf der Straße. Als wir aufeinander zugingen, drehte er ab, und ich tat es ihm gleich, nur ein bisschen, damit er sich nicht verunsichert fühlte, aber zugleich warf ich einen verstohlenen Blick auf ihn. Das Gesicht in der Kapuze war stopplig – grauer alter Mann, dachte ich, große Nase, Augen blicken auf den Bürgersteig, bemerken mich aber auch. Nachdem wir aneinander vorbeigegangen waren, wartete ich einen Moment, dann drehte ich mich um und schaute. Er trug keine Handschuhe, und das schien mir passend, warum auch immer, keine Handschuhe, trotz der unerbittlichen Kälte.
Etwa eine Stunde später war ich ein Teil der studentischen Massen, die sich in entgegengesetzten Richtungen durch den windgepeitschten Schnee bewegten, zwei ungefähr parallele Menschenketten, die sich vom alten Campus zum neuen begaben und umgekehrt, Gesichter in Skimasken, Körper gegen den Wind gestemmt oder von ihm vorangetrieben. Ich sah Todd, weit ausschreitend, und hob den Arm, mit ausgestrecktem Zeigefinger. Das war unser Standardzeichen der Begrüßung oder Zustimmung – wir zeigten aufeinander –, unsere Geste. Ich schrie gegen den Wind an, als er auf meiner Höhe war.
»Hab ihn wiedergesehen. Selbe Jacke, selbe Kapuze, andere Straße.«
Er nickte und erwiderte mein Zeichen, und zwei Tage späterwanderten wir durch die Außenbezirke der Stadt. Ich wies auf ein paar große Bäume, deren kahle Äste fünfzehn, zwanzig Meter hoch emporragten.
»Norwegischer Ahorn«, sagte ich.
Er sagte nichts. Es bedeutete ihm nichts, Bäume, Vögel, Baseballmannschaften. Er kannte sich mit Musik aus, klassisch bis seriell, mit der Geschichte der Mathematik und hundert anderen Dingen. Ich kannte Bäume seit dem Sommerferienlager, als ich zwölf gewesen war, und ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei den Bäumen um Ahorn handelte.
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