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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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ins Seminar, keine Spur vom Lehrbuch oder einem Stapel Notizen, und durch seine chaotische Redeweise fühlten wir uns zu dem werden, was er vor sich sah, eine amorphe Wesenheit. Wir waren praktisch staatenlos. Er hätte zu politischen Gefangenen in orangen Overalls sprechen können. Das bewunderten wir. Schließlich waren wir im Zellenblock. Wir tauschten Blicke aus, sie und ich, versuchsweise. Ilgauskas beugte sich über den Tisch, in seinen Augen schwamm neurochemisches Leben. Er sah an die Wand, sprach mit der Wand.
    »Die Logik endet, wo die Welt endet«, sagte er.
    Die Welt, ja. Aber er schien beim Sprechen der Welt den Rücken zuzukehren. Nun war das Thema andererseits auch weder Geschichte noch Geografie. Er lehrte uns die Prinzipien der reinen Vernunft. Wir hörten konzentriert zu. Eine Bemerkung ging in die nächste über. Er war ein Künstler, ein abstrakter Künstler. Er stellte eine Reihe Fragen, und wir machten uns beflissen Notizen. Die Fragen, die er stellte, waren unbeantwortbar, zumindest von uns, und er erwartete auch keine Antworten. Wir sprachen nicht im Seminar; keiner tat das jemals. Es gab niemals Fragen von den Studenten an den Professor. Diese unerschütterliche Tradition war hiertot.
    Er sagte: »Fakten, Bilder, Dinge.«
    Was meinte er mit »Dinge«? Das würden wir wahrscheinlich nie erfahren. Waren wir zu passiv, zu hinnahmebereit diesem Mann gegenüber? Sahen wir Dysfunktion und nannten sie eine inspirierte Form von Intellekt? Wir wollten ihn nicht mögen, nur an ihn glauben. Wir ordneten uns dem robusten Wesen seiner Methodik mit tiefstem Vertrauen unter. Natürlich gab es gar keine Methodik. Es gab nur Ilgauskas. Er forderte unsere Daseinsbegründung heraus, was wir dachten, wie wir lebten, das Wahr oder Falsch dessen, was wir für wahr oder falsch hielten. Tun das nicht all die großen Lehrer, die Zen-Meister und brahmanischen Gelehrten?
    Er beugte sich zum Tisch und sprach von vorab festgelegten Bedeutungen. Wir hörten konzentriert zu und versuchten zu verstehen. Aber zu verstehen, an diesem Punkt unseres Studiums, nach wenigen Monaten, hätte uns verwirrt, ja, sogar auf eine Art desillusioniert. Er sagte etwas auf Lateinisch, Hände fest auf die Tischplatte gepresst, und dann tat er etwas Seltsames. Er sah uns an, die Augen glitten an einer Gesichterreihe entlang, dann an der nächsten. Wir waren alle da, wir waren immer da, unsere üblichen verhüllten Ichs. Schließlich hob er die Hand und sah auf seine Armbanduhr. Es ging nicht darum, wie spät es war. Die Geste bedeutete, dass der Unterricht vorbei war.
    Eine vorab festgelegte Bedeutung, dachten wir.
    Wir saßen da, sie und ich, während die anderen Bücher und Papiere zusammensuchten und Mäntel von den Stuhlrücken nahmen. Sie war blass und dünn, das Haar zurückgesteckt, undich hatte die Vorstellung, dass sie neutral aussehen wollte, neutral wirken, eine Provokation, damit die Menschen sie bemerkten. Sie legte ihr Lehrbuch auf ihr Notizbuch, präzise auf Mitte, dann hob sie den Kopf und wartete, dass ich etwas sagte.
    »Okay, wie heißt du?«
    »Jenna. Und du?«
    »Ich würde am liebsten sagen, Lars-Magnus, nur um zu sehen, ob du mir glaubst.«
    »Tu ich nicht.«
    »Robby«, sagte ich.
    »Ich hab dich beim Training im Fitnessstudio gesehen.«
    »Ich war auf dem Crosstrainer. Wo warst du?«
    »Bin bloß so vorbeigekommen.«
    »Ach, so was machst du?«
    »Eigentlich ständig«, sagte sie.
    Die Letzten, die gingen, schlurften jetzt hinaus. Sie stand auf und ließ ihre Bücher in den Rucksack fallen, der noch am Stuhl baumelte. Ich blieb, wo ich war, und sah zu.
    »Mich würde interessieren, was du über diesen Mann zu sagen hast.«
    »Den Professor.«
    »Irgendwelche Einsichten im Angebot?«
    »Ich habe einmal mit ihm gesprochen«, sagte sie. »Von Mensch zu Mensch.«
    »Im Ernst? Wo?«
    »Im Diner in der Stadt.«
    »Du hast mit ihm gesprochen?«
    »Ich habe manchmal Anfälle von Campusflucht. Dann muss ich irgendwohin.«
    »Kenn ich, das Gefühl.«
    »Dasist der einzige Ort, wo man essen kann, außer hier, also ging ich rein und setzte mich hin, und da war er dann, in der Nische auf der anderen Seite des Gangs.«
    »Das ist unglaublich.«
    »Ich saß da und dachte, das ist er.«
    »Das ist er.«
    »Es gab eine große Speisekarte zum Ausklappen, hinter der ich mich versteckte, während ich immer wieder heimlich rüberlugte. Er aß eine Hauptmahlzeit, irgendwas mit einer braunen dicken Soße aus dem Mittelpunkt der Erde. Und er

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