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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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wohnte. War es von Bedeutung, in welchem Haus? Das fand ich nicht, aber Todd war anderer Meinung. Er wollte ein Haus, das zu dem Mann passte.
    Langsam gingen wir mitten auf der Straße entlang, zwei Meter auseinander, und nutzten die Furchen der Autospuren im Schnee, um leichter gehen zu können. Er zog einen Handschuh aus und streckte seine Finger aus, machte sie lang und beugte sie.
    »Fühl mal die Luft. Ich sage minus neun Grad Celsius.«
    »Wir sind hier nicht Celsius.«
    »Aber er. Wo er herkommt, ist Celsius.«
    »Wo kommt er denn her? Er hat etwas an sich, das nicht vollkommen weiß ist. Er ist kein Skandinavier.«
    »Kein Holländer, kein Ire.«
    Ich dachte über Andalusier nach. Wo lag Andalusien genau? Mir schien, ich wusste es nicht. Oder ein Usbeke, ein Kasache. Aber das wirkte unverantwortlich.
    »Mitteleuropa«, sagte Todd. »Osteuropa.«
    Er zeigte auf ein graues Fachwerkhaus, ein gewöhnliches zweistöckiges mit Schindeldach, das nicht die gefallene Anmut manch anderer Häuser in der Stadt aufwies.
    »Dasda könnte es sein. Seine Familie lässt ihn ab und zu spazieren gehen, sofern er ein bestimmtes Gebiet nicht verlässt.«
    »Die Kälte macht ihm nicht viel aus.«
    »Er ist es kälter gewohnt.«
    »Und er hat wenig Gefühl in seinen Gliedmaßen«, sagte ich.
    Kein Kranz hing an der Haustür, keine Weihnachtsbeleuchtung. Ich sah nichts auf dem Grundstück, das Rückschlüsse auf die Bewohner zuließ, welchen Hintergrund sie haben mochten, welche Sprache sie sprachen. Wir kamen an die Stelle, wo die Straße in einem Waldstück endete, und kehrten um. In einer halben Stunde mussten wir im Seminar sein, und ich wollte schneller gehen. Todd sah sich immer noch die Häuser an. Ich dachte an die Staaten im Baltikum und im Balkan, kurzzeitig verwirrt – was was war und was wo lag.
    Ich sprach, bevor er es tat.
    »Ich sehe ihn als eine Gestalt, die vor dem Krieg in den Neunzigern geflohen ist. Kroatien, Serbien, Bosnien. Oder erst vor Kurzem dort wegkam.«
    »Nein, das spüre ich hier nicht«, sagte er. »Das ist nicht der richtige Ansatz.«
    »Oder er ist Grieche und heißt Spyros.«
    »Ich wünsche dir einen schmerzfreien Tod«, sagte er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
    »Deutsche Namen. Namen mit Umlauten.«
    Letzteres hatte bloßen Nervwert. Ich wusste das. Ich versuchte, schneller zu gehen, doch er hielt einen Moment inne und stand da, auf seine typisch schiefe Art, um das graue Haus zu betrachten.
    »Inein paar Stunden, überleg mal, ist das Abendessen vorbei, die anderen sehen fern, er sitzt in seinem kleinen Zimmer, in seinen langen Unterhosen auf der Kante eines schmalen Bettes, und starrt ins Leere.«
    Ich fragte mich, ob Todd erwartete, dass wir diese Leere füllten.
    Wir saßen die langen Schweigephasen aus und nickten dann, wenn er hustete, in kollegialer Zustimmung. Er hatte heute erst zweimal gehustet. Seitlich an seinem Kiefer saß ein kleines zerknülltes Pflaster. Er rasiert sich, dachten wir. Er schneidet sich und sagt Scheiße . Er legt ein Stück Klopapier zusammen und drückt es gegen die Wunde. Dann beugt er sich zum Spiegel und sieht sich zum ersten Mal seit Jahren deutlich.
    Ilgauskas, denkt er.
    Wir saßen nie auf denselben Plätzen von einer Seminarstunde zur nächsten. Wir wussten nicht mehr, wie das angefangen hatte. Einer von uns, aus einem Geist lässigen Mutwillens heraus, hatte vielleicht in Umlauf gebracht, dass es Ilgauskas so lieber sei. Und die Idee hatte tatsächlich Substanz. Er wollte nicht wissen, wer wir waren. Wir waren Passanten für ihn, verwischte Gesichter, wir waren Straßenaas. Es gehörte zu seiner neurologischen Krankheit, dachten wir, andere als ersetzbar zu betrachten, und Ersetzbarkeit fanden wir interessant, sie schien zu seinem Kurs zu gehören, als eine der Wahrheitsfunktionen, auf die er hin und wieder Bezug nahm.
    Aber wir verletzten den Kodex, die schüchterne Kommilitonin und ich, indem wir wieder einander gegenübersaßen. Dazu war es gekommen, weil ich den Raum betrat, als sie schonda war, und mich einfach in den leeren Stuhl direkt ihr gegenüber hatte fallen lassen. Sie wusste, dass ich da war, wusste, dass ich das war, derselbe glotzende Bursche, gierig auf Blickkontakt.
    »Stellen Sie sich eine Oberfläche ohne jegliche Farbe vor«, sagte er.
    Wir saßen da und stellten sie uns vor. Er strich sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, eine wirre Masse, die in verschiedene Richtungen schlappte. Er brachte keine Bücher mit

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